Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
nirgends zu sehen, doch dafür umso besser zu hören: Ihr lautes Schluchzen und Wehklagen drang aus der Kammer in den Saal. Ah, diese Familie! Merkwürdig, mörderisch, unberechenbar – aber wie inbrünstig liebten sie alle miteinander den verlorenen und heimgekehrten Sohn! Mit kaltem Hass im Herzen durchschritt Sanchia den Portego der Länge nach, ohne den Anwesenden auch nur einen Blick zu gönnen.
Einige Besucher drückten sich an den Wänden herum und tuschelten, wobei ihre Mienen teils Mitleid, teils Sorge ausdrückten; anscheinend hatten die Caloprinis gerade einen kleinen Empfang abgehalten, als die schlimme Nachricht gekommen war. Zwei Serviermädchen und ein Hausdiener gingen auf Zehenspitzen herum und boten Erfrischungen an, und ihre bestürzten Gesichter standen in absurdem Widerspruch zu ihrem eilfertigen Verhalten.
»Am besten man schneidet dicht unter der Hüfte ab«, hörte Sanchia eine Stimme sagen, die ihr bekannt vorkam. »Der stinkende Teil muss entfernt werden, er vergiftet den ganzen Körper, wenn man es nicht sofort macht. Es wird zwar höchstwahrscheinlich nichts mehr nützen, aber dann wurde es wenigstens versucht.«
Wütend und fassungslos drängte sie sich an den Umstehenden vorbei und stieß rücksichtslos diejenigen beiseite, die nicht vorausschauend genug waren, ihr sofort aus dem Weg zu gehen.
»Lasst mich durch«, fuhr sie zwei Männer an, die leise debattierend vor der Tür zur Kammer standen.
»Seine Frau«, hörte sie eine Stimme hinter sich murmeln.
»Da ist sie ja«, sagte jemand anderer. »Sie wird ihn auch nicht retten können.«
Ihr Schwiegervater betrachtete sie mit blutunterlaufenen Augen. »Sanchia«, flüsterte er. »Du musst Abschied nehmen.« Er holte tief Luft. »Der arme Junge.«
Sie beachtete ihn nicht, sondern schob sich an ihm vorbei ins Zimmer. Die Luft dort war erstickend heiß und feucht. In dem kleinen Raum drängten sich mindestens sechs Menschen, sie selbst und der Patient nicht mitgezählt. Am Bett kniete Caterina, den Kopf weinend in der Armbeuge ihres Sohnes vergraben. Ihre rechte Hand lag mit gespreizten Fingern wie eine zartblättrige Blume auf seiner Brust. Hinter ihr lehnte Tsing an der Wand, das Gesicht in beständiger Gelassenheit entspannt. Wie immer war ihm auch jetzt nicht anzusehen, was er fühlte oder dachte.
Am Fußende stand Dottore Battario, und neben ihm seine verhutzelte Gehilfin, die sich über den Patienten beugte und sich vermutlich bereits durch Tasten und Schnüffeln einen Befund verschafft hatte, auf dem Battarios Vorschlag zur Amputation basierte. Beide versperrten Sanchia die Sicht auf den Patienten, ebenso wie ein betreten aussehender Diener, der eine Schale in beiden Händen hielt, in der frisches Blut schwappte, und zwei Zimmermädchen, die herumliegende blutige Laken zusammenrafften.
Sanchia konnte kaum atmen vor Zorn und Entsetzen. Der alte Stümper hatte bereits einen Aderlass durchgeführt!
»Raus«, sagte sie mit leiser Stimme. Als keine sofortige Reaktion erfolgte, schrie sie: »Raus hier! Alle raus!« Zu Tsing sagte sie: »Du bleibst hier.«
Sie wandte sich zurück in den Portego. »Verschwindet, alle miteinander! Ich will hier niemanden mehr sehen! Das ist ein Krankenzimmer, keine Totenwache!« In die Lücke zwischen Giovanni und dem schwarzen Sklaven hinein sagte sie: »Es kann nicht sein, dass am Lager eines todkranken Mannes so viele Menschen herumlungern! Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr dafür sorgen könntet, dass alle sofort gehen. Einschließlich dieses … Medicus.« Das letzte Wort spie sie förmlich hervor. »Ich habe nach einem Arzt geschickt. Einem richtigen Arzt. Niemand sonst wird Hand an Lorenzo legen, schon gar nicht so ein Schlächter wie dieser hier!«
Sie eilte zum Bett und achtete nicht auf die Alte, die leise schimpfend zur Seite wich, aber immerhin so klug war, ihren Herrn und Meister beim Ärmel zu fassen und ihn aus dem Zimmer zu zerren.
»Aber wie kann sie …«, hob Battario erbost an.
»Sie ist seine Frau«, zischte sie.
Er warf ihr einen erschrockenen Blick zu und ließ sich bereitwillig vom Ort des Geschehens entfernen.
Sanchia bekam nur noch am Rande mit, wie Giovanni die Gäste hinausbat und wie Rufio zu Caterina trat, um sie sanft an den Schultern zu fassen und sie aus dem Zimmer zu führen. »Es ist besser«, flüsterte er seiner Herrin zu, den Arm um sie gelegt wie um ein trostbedürftiges Kind. »Sanchia kann sich am besten um ihn kümmern.«
»Aber der Priester kommt
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