Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
hinweg ihre Seelen offenbarten.
Dann war ihr das nicht mehr genug, und sie sank lachend und weinend neben dem Bett auf die Knie, an der Stelle, wo vorhin noch seine Mutter gehockt hatte – die Frau, die ihr nach dem Leben trachtete.
Doch sofort schob sie diesen Gedanken zur Seite, und es fiel ihr nicht schwer, denn es waren seine Augen, sein Gesicht und seine Hände, die plötzlich ihr gesamtes Sein ausfüllten, so wie immer, wenn sie ihm nah war.
Er roch durchdringend nach Schweiß, Blut, Eiter, Exkrementen und nach den fauligen, verwesten Bestandteilen der Wundauflage, doch es war ihr egal. Sie wusste, dass sie ihn schnellstens waschen musste, aber vorher wollte sie seine Hände halten und ihm in die Augen sehen. Sie küsste seine Stirn und seine Wangen, sie rieb ihre Nase an seiner, und ihre Tränen tropften ihm ins Gesicht.
»Lorenzo«, flüsterte sie. Allein seinen Namen auszusprechen bedeutete fast so viel, wie ihn berühren zu können. »Gott, wie du mir gefehlt hast!«
»Komm mir nicht zu nahe«, brachte er mühsam heraus. »Ich fürchte, ich stinke wie ein totes Tier.«
Sie nickte und lächelte unter Tränen. »Das tust du. Aber keine Sorge, ich kümmere mich darum.«
Einer der Diener hatte ihm ein sauberes Hemd angezogen, und die Laken, auf denen er ruhte, waren blütenweiß und frisch geplättet, doch offensichtlich war niemand auf die Idee gekommen, ihn vorher gründlich zu waschen. Vielleicht weil sie alle davon ausgegangen waren, dass das auch Zeit hatte bis nach seinem Ableben.
Sie weinte erneut und hielt seine Hände. »Lorenzo, du musst daran glauben, dass du es schaffst, hörst du? Du musst!«
»Wenn du daran glaubst, kann ich es auch. Es wäre ein Jammer, wenn mein Sohn mich nie kennen lernt.«
Sanchia zuckte unmerklich zusammen, und er packte ihr Kinn, um ihr in die Augen zu sehen.
»Das Kind?«, flüsterte er drängend.
»Es geht ihm gut.«
»Du hast Branntwein getrunken.«
»Eine reine Vorsichtsmaßnahme, mir fehlt nichts«, log sie. Die Schmerzen hatten zwar nachgelassen, aber sie spürte sie immer noch, ein durchgehendes Ziehen im unteren Teil ihres Rückens, das sich manchmal krampfartig verstärkte.
»Ich will, dass du noch mehr trinkst und dich auf der Stelle hinlegst. Was immer hier zu tun ist – er kann es genauso.« Lorenzo wies mit dem Kinn auf Sarpi, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und diskret aus dem Fenster schaute. Bei Lorenzos Worten wandte er sich ihnen zu und nickte ernst. »Das wäre mein nächster Vorschlag gewesen. Ich lasse auch zusätzlich nach Simon schicken, wenn Ihr wollt. Vier Hände bewirken mehr als zwei, und in dem Fall hättet Ihr die Gewissheit, dass er in guten Händen ist.«
»Ich … nein.« Sanchia wusste, dass er Recht hatte, und sie verfluchte ihre Hilflosigkeit.
»Doch.« Lorenzo grinste schwach. »Ich werde auch ganz bestimmt darauf achten, dass alle diese guten Hände vorher gründlich mit Essig gewaschen werden.«
Sie schlief in der Kammer neben seiner; Giovanni und Caterina hatten sich für die Dauer ihrer Anwesenheit in das zweite Obergeschoss zurückgezogen, das ähnlich gestaltet war wie das Piano nobile, mit einem ebenso großen Saal und angrenzenden Schlafkammern. Der Grundriss war derselbe wie im ersten Stock, nur die Ausstattung nicht ganz so prächtig.
Caterina war von einem leichten Fieber befallen und musste das Bett hüten, teilte Giovanni Sanchia am nächsten Morgen mit. In den folgenden Tagen sah und hörte sie nichts von ihrer Schwiegermutter und war dankbar dafür. Auch Giovanni bekam sie selten zu Gesicht, es war fast, als hätten sie eine stillschweigende Übereinkunft getroffen, einander nicht mehr als nötig über den Weg zu laufen. Sanchia kam es so vor, als hätten sie eine Art Waffenstillstand, wenigstens so lange, bis Lorenzo wieder gesund war. Irgendwann würden sie reden müssen, über alles. Aber nicht jetzt. Zuerst musste Lorenzo es überstehen.
Danach sah es zunächst nicht aus. Drei Tage und Nächte lang musste sie in jedem wachen Augenblick fürchten, entweder ihn oder das Kind zu verlieren. Sie hatte nach wie vor Schmerzen, und nebenan war Lorenzo im Delirium. Rufio und Tsing wechselten sich mit der Krankenwache ab, und die Ärzte kamen mindestens zweimal täglich, um nach der Wunde zu sehen. Rufio war auch derjenige, der sie mit regelmäßigen Mahlzeiten versorgte. Sie bestand trotz ihrer Benommenheit darauf, dass er von jedem Gericht, das er ihr servierte, zuvor einen Bissen nahm,
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