Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
dem Rasiermesser zur Seite. »Das Bein tut höllisch weh, aber viel schlimmer ist das Jucken. Bist du sicher, dass die Biester noch länger an mir fressen müssen?«
Sanchia unterdrückte ein Schluchzen, während sie nach seiner Hand griff. Seine Haut war warm, aber nicht heiß. Er hatte kein Fieber mehr.
»Du bist über den Berg«, flüsterte sie.
Rufio legte sich das Handtuch über den Arm und trug die Schüssel mit dem Waschwasser aus dem Zimmer. Tsing folgte ihm mit den Barbierutensilien.
»Danke!«, rief Lorenzo ihnen hinterher. An Sanchia gewandt, fügte er seufzend hinzu: »Ich weiß, es ist nicht die passende Zeit, aber ich glaube, ich habe verlernt, Tag und Nacht auseinanderzuhalten. Meinst du, es ist noch ein kleiner Bissen vom Abendbrot da?«
Sie sprang auf und eilte zur Tür.
»Rufio!«, rief sie mit gedämpfter Stimme.
Er blieb stehen und wandte sich um, die vom Mondlicht bestrahlten Augäpfel groß und weiß in der Schwärze seines Gesichts.
»Kannst du etwas Haferbrei bringen?«
»Bring lieber Fleisch und Käse«, rief es aus der Kammer hinter ihr.
»Bring, was du meinst«, sagte Sanchia. »Aber Haferbrei sollte in jedem Fall dabei sein.«
»Wollt Ihr auch davon essen?«, fragte Rufio leise.
Sie meinte, eine Spur von Impertinenz aus seiner Stimme zu hören.
»Das entscheide ich später«, erklärte sie kühl.
Er lachte leise und verschwand in Richtung Treppe.
Sanchia eilte zurück ans Bett ihres Mannes und entfernte vorsichtig den Verband, um sich die Wunde anzusehen. Sie stieß einen Laut der Überraschung aus und holte rasch die Kerze, weil sie es zuerst nicht glauben wollte.
Die Stelle sah immer noch scheußlich aus, aber es war kein Vergleich mehr zu der grauenvollen Verletzung, mit der er hergebracht worden war. Die schleimige Fäulnis hatte einem großflächigen Wundgrund Platz gemacht, aus dem es zwar stellenweise noch nässte, der aber völlig frei von Eiter oder Nekrose war. Der üble Geruch war verschwunden, und die Wundränder hatten bereits angefangen, Schorf zu bilden. Es gab keine Wülste und keine Beulen, unter denen sich tückische Entzündungsherde hätten verbergen können. Die Maden hatten ganze Arbeit geleistet. Ein paar von ihnen wimmelten noch in der Wunde herum, aber die meisten hatte Sarpi entfernt, bevor sie sich verpuppen konnten.
Lorenzo richtete sich halb auf, strich ihr den schweren Zopf beiseite und riskierte einen vorsichtigen Blick über ihre Schulter. »Sieht es sehr schlimm aus?«
»Hast du es noch nicht gesehen?«
Er zuckte mit einer Andeutung von Ironie die Achseln. »Ich kam wohl nicht dazu. Obwohl ich mich im Nachhinein frage, was ich die ganzen Tage hier gemacht habe außer Schlafen.«
Darüber hätte sie ihm einiges erzählen können, doch wen kümmerte das jetzt noch?
»Es sieht … wunderbar aus«, sagte sie begeistert. »Gleich morgen früh entferne ich die restlichen Maden und streiche etwas Honigtinktur auf die Wunde, dann kann es in aller Ruhe heilen.«
Er schien ihren Enthusiasmus nicht zu teilen. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Senke rohen Fleischs an seinem Schenkel. »Ein ganz schönes Loch, hm?« Er wackelte mit den Zehen. »Nun ja, das Bein ist noch da, und ich kann es bewegen. In meinen Füßen ist Gefühl, das ist schon mehr, als ich letzte Woche darüber sagen konnte. Aber ob ich je wieder laufen kann? Oder klettern?«
Sie nickte entschieden. »Nicht sofort und bestimmt nicht gleich in jedes Krähennest, aber du wirst es können. Und du wirst auch in deinen Calze wieder eine gute Figur machen. Die Muskeln werden sich neu bilden, die Vertiefung wird mit der Zeit verschwinden. Natürlich nicht von heute auf morgen. Aber sagen wir – etwa in einem Jahr.«
Er hob die Brauen. »Das ist nicht gerade wenig.«
»Kommt darauf an, wie man die Zeit nutzt«, meinte sie unbeirrt. »Ein Jahr vergeht im Nu, wenn man sich sinnvoll beschäftigt.«
Er lächelte sie von unten herauf an, müde, leicht belustigt. »Ich sehe dir an, was du denkst. Ein Jahr Pause – vielleicht genau das Richtige für einen Mann, der gerade eine Familie gegründet hat, hm?«
Sie schlang die Arme um ihn, darauf bedacht, nicht an das Holzbrett zu stoßen, mit dem das Bein geschient war, und dann ließ sie endlich ihren Tränen freien Lauf. Er hielt sie fest und streichelte ihr das Haar, und während sich ihre Anspannung unter den beruhigenden Worten löste, die er ihr ins Ohr murmelte, dankte sie der Heiligen Jungfrau, weil all ihre Gebete der
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