Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
hochstieg, wurden die Schreie wieder lauter; Giovanni oder Caterina mussten schon sehr tief schlafen, um sie zu überhören. Doch möglicherweise wollten die beiden sie auch einfach nicht wahrnehmen. Lorenzo hatte einmal beiläufig erwähnt, dass das Verhältnis seines Vaters zu seinem Großvater nicht das beste sei und dass auch seine Mutter mehr Angst vor dem alten Mann empfinde als sonstige Gefühle.
»Zu mir war er immer freundlich«, hatte er gesagt. »Aber ich mochte ihn trotzdem nicht. Vielleicht weil meine Eltern ihn nicht leiden konnten.«
Sie erreichte das Dachgeschoss und näherte sich zögernd der Kammer des Alten, der, wie eine Laune des Schicksals es gefügt hatte, nicht nur Lorenzos, sondern auch ihr Großvater war.
Die Tür stand weit offen, die Schreie drangen ungehindert auf den Gang hinaus, ein kehliges, schluchzendes Stöhnen, wie von einer gepeinigten Seele, die ohne Hoffnung auf Erlösung den unmenschlichen Qualen des Höllenfeuers ausgesetzt war.
Sanchia holte Luft und legte beide Hände auf ihr wild pochendes Herz, als sie den Raum betrat. Sie zuckte zusammen, als plötzlich mit einem lauten Knall das offene Fenster im Luftzug gegen die Wand geschlagen wurde. Die Draperie wehte mit geisterhaftem Rascheln im Wind und blähte sich vor dem Fenster wie tanzender Nebel.
Das Schreien, das vom Bett her kam, verwandelte sich in unartikulierte Laute der Angst. Der alte Mann lag mit aufgerissenen Augen da, umrahmt von den makellos glatten Laken, die zu zerwühlen er außerstande war. In seinem starren Gesicht waren die Augen der einzige Ausdruck von Leben, zuckende, feucht rollende Glasmurmeln, blind vor Furcht und Entsetzen. Ein wildes Ächzen drang aus dem offenen Mund, halb erstickt unter dem Speichel, der bei jedem Laut an den Winkeln hervortropfte.
Es stank nach Schweiß und Erbrochenem. Der Alte musste sich übergeben haben.
Doch als sie ans Bett trat, sah sie nirgends Spuren davon. Stattdessen fand sie eine Pfütze dicht beim Fenster. Jemand war hier gewesen, und es konnte noch nicht lange her sein.
Sie umrundete die Lache und wollte das Fenster schließen, als ein Impuls sie dazu brachte, einen Blick hinauszuwerfen.
Jemand bewegte sich unten vor dem Haus auf einen weißen, zerfließenden Umriss zu, der sich auf dem schmalen Pflasterstreifen ausbreitete, halb auf den Stufen der Kaimauer, halb im Wasser.
Sanchia gab einen Schreckenslaut von sich, und der Mann, der unten am Haus entlangschlich, blieb ruckartig stehen und legte den Kopf in den Nacken.
Sie schaute direkt in die hervortretenden Augen von Bruder Ambrosio. Im schwachen Licht des Morgengrauens waren sie dunkel wie schwarze Kiesel, und unter seinem Kinn quoll der Kropf wie bleicher Käse über den Kragen der Kutte.
Er reckte die Hand zu ihr hoch und machte das Zeichen zur Abwehr des Bösen. Unschlüssig blickte er dann auf die weiße Masse zu seinen Füßen, bevor er abermals nach oben schaute und im nächsten Augenblick flink davonlief, um gleich darauf im Dunkeln zwischen den Häusern zu verschwinden.
Sanchia unterdrückte mühsam ihr Entsetzen und fokussierte ihre Blicke schärfer auf das Weiße, das dort unten lag; es sah aus wie ein großes Laken oder ein Bettüberwurf.
Doch dann erkannte sie, was es wirklich war, und sie holte keuchend Luft und sammelte den Atem in ihren Lungen für einen lang gezogenen, gellenden Schrei.
Giovanni war nicht in der Lage, aufzustehen. Die Schüssel umklammernd, die man ihm gegeben hatte, lag er würgend im Bett und erbrach sich in krampfartigen Schwällen, bis nichts mehr herauskam außer schleimiger Galle. Zudem litt er an einer Art Betäubung, die mit heftigen Kopfschmerzen, Sehstörungen und starker Benommenheit einherging. Sanchia befahl dem Hausdiener, Kamillentee zu kochen und ihn Giovanni schluckweise einzuflößen, bis die Übelkeit nachließ. Sie war schnell zu dem Schluss gekommen, dass Gift im Spiel war, doch die Dosis schien zum Glück nicht tödlich zu sein.
Auch Caterina würde daran vermutlich nicht sterben, doch dafür höchstwahrscheinlich an den Folgen ihrer Verletzungen. Dass sie nach einem Sturz aus dem dritten Stockwerk überhaupt noch lebte, grenzte ohnehin bereits an ein Wunder. Sie hatte mindestens zwei Knochenbrüche erlitten, einen am rechten Unterschenkel und einen am rechten Oberarm, und Sanchia vermutete, dass auch Rippen gebrochen waren, vielleicht sogar die Hüfte. Hinzu kam eine hässliche, riesige Prellung am Hinterkopf. Caterina versank immer wieder in
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