Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
hatten sich seiner bemächtigt und füllten sein ganzes Denken aus, bis Vergangenheit und Gegenwart sich auf beängstigende Weise zu vermischen schienen. Er konnte seine schwangere Frau nicht anschauen, ohne an das Mädchen von damals zu denken. Und wenn er Sanchias blonden Schopf sah, erstand in seinem Geist das Bild von gewaltsam geschorenem Haar.
Zwei Tage nach dem Besuch bei den Caloprinis tauchte ein Fremder auf. Er lungerte in den Gassen rund um die Glaserei herum und ruderte mit einem morschen Kahn scheinbar ziellos den Kanal auf und ab. Hager, schlecht gekleidet und die Kappe tief ins Gesicht gezogen, war er niemand, der besonderes Aufsehen erregt hätte, doch jemandem, der neuerdings auf noch so nebensächliche Abweichungen vom Alltäglichen achtete, konnte er nicht entgehen.
Piero selbst war es, der den Mann entdeckte, denn seit seiner Rückkehr konnte er kaum noch arbeiten. Weit häufiger als sonst trat er aus der Werkstatt ins Freie und behielt argwöhnisch seine Umgebung im Auge. Der Mann duckte sich und ruderte hastig hinter ein Floß mit Brennholzstapeln, als er merkte, dass er aufgefallen war. Anschließend war er verschwunden und ließ sich auch an den folgenden Tagen nicht mehr blicken.
Dennoch konnte Piero nicht umhin, eine Entscheidung zu treffen. Es brach ihm das Herz, doch er wusste keinen anderen Ausweg.
Sein Entschluss war gefallen, als er Bianca drei Tage nach dem Auftauchen des Fremden abends in ihrer Schlafkammer aufsuchte. Sanchia war bereits zu Bett gegangen, und auch die Arbeiter und das Gesinde hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen.
Bianca saß mit durchgedrücktem Kreuz auf einem Schemel und kämmte ihr Haar, das in langen Strähnen bis zum Fußboden herabhing. Ein Talglicht brannte auf der Kommode und erzeugte ein mattes Licht, das flackernd von dem Spiegel in der Ecke der Kammer zurückgeworfen wurde.
»Ich möchte Sanchia in ein Kloster bringen. Gleich morgen, zusammen mit Pasquale. Ich habe schon mit ihm gesprochen, auch er meint, es sei die beste Lösung.«
Die Hand mit dem Kamm verharrte in der Luft. Bianca drehte sich nicht zu ihm um, sondern betrachtete ihn im Spiegel, wo seine Gestalt leicht verzerrt zu sehen war. Schatten schienen aus der Dunkelheit über seinen Körper und sein Gesicht zu kriechen, als er sich einen Schritt nach vorn bewegte und seine Hand auf Biancas Schulter legte.
»Ich nehme nicht an, dass sie dorthin soll, um lesen zu lernen«, sagte sie tonlos.
Er erzählte ihr von dem Fremden. »Kann sein, dass ich Gespenster sehe«, meinte er. »Aber mein Gefühl sagt mir das Gegenteil. Sie ist in Gefahr.«
Bianca starrte ihn bloß an.
»Das ist doch hier kein Leben mehr für sie«, brach es aus Piero heraus. »Sie darf nicht mehr raus, muss den ganzen Tag in der Kammer hocken! In der einen Woche ist sie richtig apathisch geworden! Hast du sie seither auch nur ein einziges Mal lachen hören? Und um uns steht es auch nicht viel besser! Wir machen uns noch ganz verrückt vor lauter Sorge!«
»Du würdest sie ernsthaft hergeben?«
»Wenn es sie rettet: ja.«
Sie fing an zu weinen, eine Hand immer noch um den Kamm gekrampft, die andere auf ihren schweren Leib gelegt. Piero ging neben ihr in die Hocke und umschlang sie mit beiden Armen, das Gesicht gegen ihren Bauch gedrückt. Tränen stiegen ihm in die Augen, und in seiner Kehle formte sich ein Schluchzen. Er hatte geglaubt, nicht weinen zu können, aber nun tat er es doch. Nur, dass es ihm keine Linderung in seiner Qual verschaffte, sondern alles nur noch schlimmer machte.
»Es tut mir leid«, stammelte er. »Es tut mir ja so leid!«
»Das Kloster – es würde Geld kosten«, meinte sie mit dumpfer Stimme. »Sie nehmen nur Mädchen aus hoch gestellten Familien. Es sei denn, sie brauchen eine als billige Magd für die niedrigsten Dienste, zum Wasserschleppen, Ställeausmisten und Putzen! Soll unsere Tochter etwa Nonne werden, um vornehmen Gänsen hinterherzuputzen?«
Er verschwieg ihr, dass manche Nonnen sich weit fragwürdigerem Zeitvertreib als dem Putzen hingaben. Dies war nicht der Moment, davon anzufangen. Außerdem hatte er Erkundigungen eingezogen und dabei einiges erfahren, das ihn dazu gebracht hatte, seine Vorurteile über Frauenklöster zu revidieren.
»Es ist genug Geld da«, sagte er. »Sie wird da alles haben, was sie braucht.«
Sie beugte sich zurück, um ihn ansehen zu können. Ein fragender Ausdruck stand auf ihrem Gesicht. »Was meinst du damit?«
»Ich habe Geld.«
»Willst du
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