Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
unartikuliertes Geräusch von sich, es klang wie das Stöhnen eines gefolterten Tieres. »Sanchia … wo …«
»Hier. Wir haben sie hier, dein kleines Täubchen.«
Er hörte sie wimmern, und das war der Moment, als etwas in ihm zerriss. Er packte die Hand, die das Messer gegen seinen Hals drückte, und dann drehte er brutal das Gelenk, bis er den Knochen knacken und dann zerbrechen hörte. Er stieß einen wilden Schrei aus, während er herumfuhr, um seinen Angreifer vollends zu überwältigen.
Ihm wurde zu spät klar, dass noch ein weiterer Mann im Zimmer war. Er trug einen schwarzen Umhang, und sein Gesicht war unter einer Maske verborgen. Er schlug Piero in den Bauch, ein harter Hieb, der ihm die Luft wegnahm. Die Augen hinter den Sehschlitzen der Maske funkelten ihn an, während Piero einen Schritt zurücktaumelte.
Er konnte immer noch nicht richtig atmen. Mit vagem Erstaunen bemerkte er, dass der Mann ein blutverschmiertes Kurzschwert in der Hand hielt. Er hatte Piero keinen Schlag versetzt, sondern ihm die Klinge in den Leib gestoßen.
Pieros Blick trübte sich bereits, die Umrisse des Fremden verschwammen zusehends vor seinen Augen. Ein weiterer harter Schlag folgte dem vorangegangen, eine Handbreit tiefer als der erste. Als er langsam in die Knie sackte und dann zur Seite fiel, hörte er sein Kind aufschluchzen.
Dunkelheit brandete von allen Seiten auf ihn ein, dennoch zwang er sich, die Augen zu öffnen. Sanchia … Wo war seine Tochter?
Der zweite Mann hatte sie beim Haar gepackt und zerrte ihren Kopf nach hinten. Auch er trug Umhang und Maske. Er hielt Sanchia nachlässig wie eine Puppe. Der Dolch an ihrem schmalen Hals wirkte riesenhaft, fast wie ein Schwert. Er umklammerte ihn mit der gebrochenen Hand, linkisch und kraftlos. Doch es brauchte keine Kraft, um einem kleinen Kind das Leben zu nehmen.
Ihre Augen waren starr wie durchsichtiges Glas, ihr Gesicht bleicher als der Mond.
Ihr Leben zog an ihm vorbei. Die Geburt in dem schmutzigen Cortile . Das flaumbedeckte Köpfchen an Biancas Brust. Die ersten tapsigen Schritte, in die Sicherheit seiner Arme. Das erste Wort: Papa .
Dann war sie drei Jahre alt und wollte wissen, warum die Sonne nicht vom Himmel fiel. – Aber das hat sie schon getan, Piccina – sie steht gerade vor mir!
Seine Lippen bewegten sich, als könnte er noch einmal mit ihr sprechen. Doch selbst, wenn ihm noch Zeit geblieben wäre, hätte er niemals die richtigen Worte gefunden.
Was hätte er auch sagen sollen? Danke, dass du zu uns gekommen bist? Danke für dein Lachen, deine Fragen, die vielen Augenblicke, in denen die Zeit stillstand vor lauter Glück?
Er hätte ihr so gern all das und noch viel mehr zum Abschied gesagt. Stattdessen hielt er für einen letzten Moment ihren Blick fest, frei von Angst und voller Liebe.
Leb wohl, meine Tochter!
Pasquale wurde von trappelnden Schritten wach, die aus der Werkstatt zu hören waren. Gleich darauf schrie ein Mann unterdrückt auf. Ein anderer zischte: »Halt den Mund! Willst du, dass alle aufwachen?«
»Ich habe mich an irgendwas Scharfem geschnitten. Verdammt, hier liegt überall Glas rum.«
»Schweig! Wo ist das Kind? Warum hast du es nicht festgehalten?«
»Sie hat mich gebissen. Außerdem ist meine Hand gebrochen.«
Pasquale war bereits lautlos von seinem Lager geglitten und hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür gepresst. Meist schlief er wie alle anderen in dem straßenseitigen Anbau des Hauses, wo sich die Kammern der unverheirateten Arbeiter und des übrigen Gesindes befanden, doch heute hatte er in der kleineren Werkstatt noch länger an einer Metalllegierung gearbeitet. Als er zu müde gewesen war, um weiterzumachen, hatte er sich auf der Decke neben dem immer noch warmen Ofen zusammengerollt und war eingeschlafen. Wenn die Nächte kühler wurden, zog er es gelegentlich vor, in der Werkstatt zu übernachten statt in der zugigen Kammer, die er zudem mit dem ewig rülpsenden und furzenden Vittore teilen musste.
Das Flüstern nebenan ging weiter, es entwickelte sich zu einem Streit. »Sie muss hier irgendwo sein, sie kann nicht nach draußen gerannt sein, sonst wäre ja eine Tür offen.«
»Vielleicht ist sie durch eines der Paneele geschlüpft.«
»Worauf wartest du dann, du Tölpel! Geh raus und sieh nach! Ich suche hier drin weiter.«
Pasquale hörte Schritte auf den Dielen und scharrende Geräusche, als würde jemand Fässer und Kisten hin und her rücken.
Dann kam der andere Mann
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