Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
ich.«
»Hast du es auch damals gemacht?«, kam eine Stimme von der Tür her. Jemand hatte sie lautlos geöffnet und stand nun im Eingang, regennass und eine Kälte verbreitend, die nicht nur vom Winter herrührte.
»Hast du auch ihrer Mutter damals das Haar abgeschnitten, nachdem du sie in diesen dunklen Hof gezerrt und dort erstochen hattest? Hast du Jahre später ihrer kleinen Tochter eigenhändig das Haar genommen, nachdem du den Glasmacher und seine Frau vor ihren Augen getötet hattest? Und was ist mit all den Leben, die du heute ausgelöscht hast? Sagredo. Rufio. Caterina. Vater. Ich fand sie alle vorhin. Und auch das Kleid, die Perücke … Mein Gott! Warum?«
Giovanni Caloprini stand mit weit aufgerissenen Augen in der Mitte des Zimmers und starrte seinen Bruder an. »Ich wollte nur … wollte nur …« Er holte Luft. »Caterina habe ich nichts getan. Wir haben uns immer gegenseitig … toleriert. Sie wusste, was ich tat, und ich ließ sie ebenfalls gewähren. Sie ist von ganz allein gestorben! Deshalb wurde ich auch … unruhig.« Er schluckte. »Ich glaube, sie wollte sowieso nicht mehr leben. Der Sturz aus dem Fenster … Sie hatte genug von allem.«
»Vergessen wir das jetzt. Leg die Kleine zurück in die Wiege, Giovanni. Sie ist mein Enkelkind.«
Giovanni hielt das Baby anklagend hoch, ein höhnisches Grinsen im Gesicht. »Ja, doppelt sogar! Ein Inzestbalg! Was taugt es schon!«
Sanchia gab ein Stöhnen von sich, und Giovanni warf ihr einen wütenden Blick zu, der sie sofort zum Schweigen brachte.
Francesco hob überrascht den Kopf. »Was redest du da von Inzest?«
»Diese da …« Giovanni spie die Worte fast hervor, während er auf Sanchia deutete. »Diese da ist doch deine Tochter!«
Francesco wurde bleich. »Das glaubst du wirklich! Mein Gott, all die Jahre … Deswegen hast du Sanchia damals getötet?«
Giovanni wirkte verunsichert. »Aber … Sie war doch deine Geliebte … Du hast sogar gesagt, dass du sie heiraten willst!«
»Natürlich wollte ich das! Weil ich sie liebte! Mir war völlig egal, dass sie schon einen Sohn hatte und dass sie mit einem weiteren Kind schwanger ging!« Er hielt inne und blickte Sanchia mit schmerzerfüllten Augen an. »Ich habe deiner Mutter versprochen, ihren kleinen Jungen zu holen, deinen Bruder. Ich habe mich nach Norden eingeschifft, aber mein Vorhaben misslang, und ich wurde gefangen genommen. Als ich endlich fliehen konnte und zurückkam, war deine Mutter verschwunden.«
Von seinen Ausführungen gab es nur eines, was ihr wichtig war und sich wie Donnerhall in ihrem Kopf wiederholte. »Du bist nicht mein Vater«, sagte sie mit tauben Lippen.
Er schüttelte den Kopf. »Nach allem, was ich gehört habe, war dein Vater ein großer, blonder, ziemlich ungehobelter Mensch mit schlechten Manieren. Sie hat ihn auf gewisse Weise gemocht, aber das war auch schon alles. Doch das ist eine ganz andere Geschichte.« Er ließ Giovanni nicht aus den Augen. »Leg das Kind hin.«
Giovanni leckte sich die Lippen. In seine Augen war ein panischer Ausdruck getreten. »Ich wollte niemandem wehtun! Ich wollte immer nur … Ich wollte …«
Francesco trat rasch auf ihn zu und nahm ihm entschlossen das Kind weg. Er reichte es Sanchia, und während sie leise schluchzend in die hinterste Ecke des Zimmers zurückwich und dort neben einer Truhe zu Boden sank und ihre Tochter an sich presste, blieb Giovanni mit hängenden Armen vor seinem Bruder stehen und blickte ihn an wie ein getretener Hund.
»Ich hab dich doch lieb«, sagte er mit kindlich leiser Stimme. »Ich wollte nie, dass du weggehst. Und die anderen … Ich hatte nie andere, nur Rufio, aber ich wollte doch immer nur dich!«
Mitleid, Abscheu und Entsetzen stritten in Francescos Miene um die Oberhand.
Giovanni nickte mühsam. »Ich tue dir leid, oder? Ich tat dir schon immer leid. Aber du warst auch froh. Froh, weil du es nicht warst, den Vater nachts in seine Kammer holte, immer und immer wieder. Froh, weil du nicht die Schmerzen und die Scham ertragen musstest, seine Hure zu sein.«
Francesco presste die Lippen zusammen, das Gesicht starr vor Kummer. »Ich … ich hätte dich beschützt, wenn ich es gekonnt hätte …«
»Das weiß ich doch. Aber du warst zu klein.« Giovanni schloss sinnend die Augen. »Wenigstens war Rufio da, er hat es mir oft erspart, dafür war er ja da.«
»Warum hast du ihn umgebracht?«
»Weil er mich daran hindern wollte, das Nötige zu tun. Weil er nicht aufhören
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