Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Sanchia wusste, dass die Äbtissin nicht allzu viel von Müßiggang hielt. War sie auch nicht sonderlich streng bei der Einhaltung des liturgischen Klosterreglements – bis auf die Versammlung zur Vesper war die Teilnahme an den gemeinsamen Gebeten freigestellt –, so legte sie doch größten Wert darauf, dass die Mädchen sich sinnvoll beschäftigten, wobei sie im Gegensatz zu anderen Klostervorsteherinnen keinen Unterschied zwischen den höher gestellten, aus reichen Familien stammenden Nonnen und den zumeist mittellosen Converse , den Laienschwestern, machte. Dasselbe galt für die Educande, die Mädchen, die sich hier aufhielten, um gottgefälliges Leben zu erlernen. Alle mussten ihren Dienst an der Gemeinschaft leisten.
Einer von Albieras Glaubensgrundsätzen lautete, dass Gott alle Menschen gleich geschaffen habe, und das hob sie stets hervor, wenn sich einer ihrer verwöhnteren Zöglinge beklagte.
»Möchtest du eine neue Aufgabe übernehmen, mein Kind?«
Sanchia, schon auf dem Weg in den Garten, blieb überrumpelt stehen. Sie hob vorsichtig die Schultern, von der beunruhigenden Frage erfüllt, was die Äbtissin wohl jetzt wieder für sie ausgeheckt haben mochte.
Zu Anfang ihres Aufenthalts hatte sie am Webstuhl gearbeitet und feine Stickereien erlernt, immer nur um Haaresbreite von dem Wunsch entfernt, Garn, Wolle und Nadeln an die Wand zu werfen. Nach ein paar Wochen wurde sie für den Küchendienst eingeteilt. Sie hatte Zwiebeln geschnitten und Fische geschuppt und Kräuter gehackt, bis ihre Finger taub waren, mit Groll im Herzen und stummen Seufzern auf den Lippen. Irgendwem war ihre mangelnde Begeisterung wohl aufgefallen, denn sie blieb nicht lange in der Küche. Die Gartenarbeit war schon besser. Hier konnten die Gedanken frei schweifen, und sie war gleichzeitig an der frischen Luft. Dennoch war auch das Ziehen von Obst und Gemüse nicht das Maß aller Dinge, ebenso wenig wie die Arbeit in den Ställen. Wenn sie sich um die Tiere kümmerte, dann am liebsten um die Tauben, die in einem Schlag auf dem Dach gehalten wurden. Nicht allen Vögeln drohte ein nahes Ende in der Klosterküche, ein Teil der Zucht wurde auch für die Übermittlung von Briefen eingesetzt.
An Beschäftigung mangelte es im Kloster nicht, aber Sanchia fühlte sich dennoch wurzellos und fehl am Platze. Es war komfortabel, aber es war eindeutig auch ein Gefängnis.
»Du könntest mich einmal ins Spital begleiten. Was hältst du davon?«
Ein weiteres Achselzucken, aber nicht ablehnend. Zumindest war es etwas Neues, und es klang ungewöhnlich.
»Dann komm gleich mit. Es kann gut sein, dass wir in Kürze gebraucht werden.« Die Äbtissin runzelte die Brauen, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Mit einer zerstreuten Handbewegung scheuchte sie eine Schar gackernder Hühner beiseite und winkte eine der Nonnen zu sich heran, der sie das große Goldkreuz und den Stab überreichte, die Insignien ihres Amtes. »Bring das in meine Kammer. Im Spital wäre es nur im Weg.« An Sanchia gewandt setzte sie hinzu: »Manchmal macht es Mühe, ein Amt innezuhaben. Vor allem, wenn man dafür kantige und schwere Gegenstände mit sich herumtragen muss. Aber wenn man anderen Amtsinhabern entgegentritt, gibt es nichts Besseres als eigene Zeichen der Macht, je größer, desto besser.« Sie lächelte ein wenig schief. »Das liegt natürlich daran, dass Männer ihrem Wesen nach hauptsächlich auf Äußerlichkeiten fixiert sind, besonders auf alle nur denkbaren Aspekte von Größe. Da ist ein Stab nicht das Schlechteste.«
Sanchia nickte, ohne wirklich zu begreifen, was die Äbtissin meinte.
Sie folgte Albiera über den Hof zu der großen Pforte. Eine der als Torhüterinnen eingesetzten Nonnen öffnete eilfertig die kleinere Innentür.
»Danke, Faustina, du machst das ausgezeichnet«, sagte Albiera zu der Kleinen, die mit einem erfreuten Lächeln reagierte.
Es war Sanchia schon oft aufgefallen, dass die Äbtissin sich für Hilfsdienste aller Art bei den Nonnen und sogar bei den Converse bedankte, wobei sie nie versäumte, den Namen des betreffenden Mädchens auszusprechen. Es hinterließ jedes Mal ein angenehmes Gefühl von Wärme.
Als wohltuend empfand Sanchia es auch, dass Albiera sie nicht ständig dem Zwang aussetzte, reden zu müssen. Sie stellte meist Fragen, auf die sie keine besonderen Antworten erwartete.
Doch dem war nicht so, wie Sanchia gleich darauf merken sollte.
»Ich hatte dir vor Wochen schon angeboten, einmal ins Scriptorium
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