Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Sanchia wich zur Seite und ließ zwei Männer vorbei, die einen dritten durch die Pforte schleppten. Das zerbrochene Ende eines Knochens ragte aus dem merkwürdig verdrehten Bein des Verwundeten. Der Mann schrie in höchstem Diskant und bat alle Heiligen um Vergebung.
»Legt ihn sofort in die Halle auf den Boden und rührt sein Bein nicht an«, sagte Albiera knapp zu den Männern. An Sanchia gewandt, setzte sie hinzu: »Halte dich an meiner Seite. Wenn es dir zu viel wird, sag es sofort.«
Sie eilte in die große, von Säulen getragene Halle des Gebäudes, wo sie augenblicklich den Anwesenden Befehle erteilte. Sie wies die Unverletzten an, die Verwundeten entweder reihum auf den Boden zu legen oder sie, überwacht von den im Spital beschäftigten Helfern, in andere Räume zu tragen. Von der Halle gingen etliche Türen ab, die entweder in Flure oder kleinere Hallen führten, von denen sich wiederum weitere Türen zu einzelnen Zimmern öffneten. All das erfasste Sanchia mit einem raschen Rundblick, während um sie herum Bemühungen im Gange waren, die Verletzten zu versorgen.
Insgesamt waren es vielleicht ein rundes Dutzend Männer, die bei dem Brand so sehr zu Schaden gekommen waren, dass sie ärztlicher Hilfe bedurften. Der Verletzte mit dem zersplitterten Bein brüllte immer noch ohne Unterlass, während einer der beiden Männer, die ihn hergebracht hatten, Albiera auf deren Frage hin unterrichtete, was geschehen war. Dabei musste er teilweise mindestens so laut die Stimme erheben wie der Verletzte, dessen Schreien nur mühsam zu übertönen war.
Ein Feuer war im Dogenpalast ausgebrochen. Große Teile des Gebäudes waren in Flammen aufgegangen, einschließlich der Wohnung des Dogen.
Albiera fragte in angespanntem Ton nach Einzelheiten. »Was ist mit Giovanni Mocenigo?«
Der Mann musste einen Moment überlegen, bis er darauf kam, dass sie den Dogen meinte.
»Er ist wohlauf«, brüllte der Mann auf ihre Frage. »Ihm ist nichts passiert! Seine Leute haben ihn in Sicherheit gebracht!«
Andere hatte weniger Glück gehabt als der Doge, vor allem die Helfer, die bei den Löscharbeiten und beim Bergen der Palastschätze und Amtsakten eingesetzt worden waren. Nähergelegene Spitäler waren bereits überfüllt, sodass Gondeln und Träger die Verwundeten in alle anderen erreichbaren Krankenhäuser brachten.
Der Verwundete wälzte sich auf dem mit Ziegeln gepflasterten Hallenboden und stieß abgerissene Schreie aus, während Albiera einen schmalen Dolch aus einer Tasche an ihrem Gürtel holte und mit einer einzigen geschickten Bewegung der scharfen Klinge seine Kniehose von unten bis zum Taillenbund auftrennte.
Sanchia, die beim Anblick des Messers zurückgeprallt war, beugte sich zögernd vor, um zu verfolgen, was als Nächstes geschah.
»Haltet ihn fest«, wies Albiera zwei Männer an. Sie rief noch einen dritten dazu, da der Unglückliche nicht nur lauter schrie, sondern auch begann, sich heftig zu wehren. Offenbar nahm er an, sie habe vor, ihm an Ort und Stelle das Bein abzuschneiden, jedenfalls war das den wenigen verständlichen Fetzen seines Schmerzgebrülls zu entnehmen.
Als einer der Männer versehentlich gegen sein Bein stieß, verlor der Verwundete die Besinnung. Schlagartig schien Stille zu herrschen, doch dann verschwand dieser Eindruck, als die übrigen Laute aus der Halle sich zu einer neuen, wenn auch gemäßigteren Geräuschkulisse verdichteten.
»Schau weg, wenn du es nicht sehen willst«, sagte Albiera über die Schulter zu Sanchia.
Diese schluckte und war einen Moment lang versucht, genau das zu tun, was die Äbtissin ihr gerade vorgeschlagen hatte. Doch diese Anwandlung verging sofort. Ein unerklärlicher Drang zwang sie dazu, ihre Blicke auf das Bein zu heften.
Es war stark geschwollen, aber aus der offenen Wunde trat weniger Blut, als sie erwartet hatte. Der Knochen war mitten entzweigebrochen und hatte sich an der Außenseite des Oberschenkels durch das Fleisch gebohrt.
»Wird er das Bein verlieren, Ehrwürdige Mutter?«, fragte einer der Männer. Anscheinend war Albiera hier bekannt, obwohl nichts an ihrem schlichten Habit darauf hindeutete, dass sie mehr als eine einfache Nonne war.
»Das müssen wir den Chirurgo fragen«, entgegnete diese ungerührt.
Ein Mann kam um eine der Säulen herum und trat mit klappernden Zòccoli näher. »Ich würde sagen, nein, sonst würde er nicht hier liegen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ehrwürdige Mutter.«
»Simon, Ihr habt wie immer Recht.
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