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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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zu kommen«, sagte die Äbtissin. »Du warst bisher nicht dort.«
    Sanchia hob die Schultern.
    »Es wäre mir ein Anliegen, den Grund zu erfahren.«
    Sanchia stieg über den Kadaver einer Ratte, die auf dem Pflaster lag. Eine Katze hatte ihr das Genick zerbissen. Sie saß etwas abseits auf der Klostermauer und äugte misstrauisch zu ihnen herunter. Das ist meine Beute, schien ihr Blick zu sagen. Verschwindet bloß!
    Sie gingen die Fondamenta entlang zur nahe liegenden Brücke, die über den Kanal führte. Die Sonne tanzte auf dem Wasser und wob ein ständig wechselndes Muster aus Lichtkringeln in die schwappenden Wellen. Der trostlose Anblick bröckelnder Kaimauern und treibender Abfälle vereinte sich hier wie überall in der Stadt scheinbar zwanglos mit der leuchtenden Pracht des Reichtums. In ihren erlesen ausgestatteten und bis zu den Dächern bemalten Palazzi lebten die Nobili wie in leuchtenden Schiffen, die in einem Meer aus Verfall und Schmutz schwammen.
    Einen Moment gab Sanchia sich der Vorstellung hin, dass sie nicht mehr antworten müsste, wenn sie nur lange genug schwiege. Doch diese Hoffnung löste sich beim nächsten Wort der Äbtissin in Luft auf. »Nun?« Sie schaute Sanchia prüfend von der Seite an. Warum kommst du nicht ins Scriptorium? Offen gesagt, ich hätte vermutet, dass es dich da am meisten hinzieht.«
    Sanchia holte Luft und zwang sich eine Erwiderung ab. »Was soll ich da?«
    Dies war schon der zweite vollständige Satz, den sie innerhalb eines Tages hervorgebracht hatte. Ein Ereignis, das noch nicht vorgekommen war, seit sie in San Lorenzo lebte.
    »Du könntest lesen lernen.«
    Sanchia sprach abermals. Es war nicht leicht, aber auch nicht so schwer, wie sie die ganze Zeit gedacht hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie die Klostermauern verlassen hatte. Sie war so lange in dieser abgeschotteten Welt gewesen, dass sie fast völlig vergessen hatte, wie es draußen aussah.
    »Bücher sind langweilig.«
    »Wer sagt das?«
    Es war nicht nötig, dass es jemand ausdrücklich betonte. Niemandem konnte entgehen, wie langweilig Bücher waren. Schließlich wurde oft genug in den Arbeitsräumen und im Refektorium von den älteren Nonnen daraus vorgelesen, einschläfernde Monologe über die Leiden Christi und die Freuden selbst gewählter Armut. Andere Kapitel befassten sich mit Gehorsam, Keuschheit und Jungfräulichkeit. Waren die Nonnen mit dem Vorlesen der Traktate fertig, fingen sie regelmäßig von vorn an und hörten erst auf, wenn die Glocke zur nächsten Andacht läutete. Sanchia war bis in alle Ewigkeit von dem Wunsch, lesen zu lernen, kuriert.
    »Es gibt auch andere Bücher«, sagte Albiera, die anscheinend merkte, dass Sanchia nicht vorhatte, die letzte Frage zu beantworten.
    Auf Sanchias skeptischen Blick setzte sie hinzu: »Bücher, die um vieles erbaulicher sind als die offizielle Pflichtlektüre für Nonnen. Und eine Sache am Lesen hat ihren ganz speziellen Reiz. Kannst du erraten, was ich meine?«
    Sanchia merkte zu ihrem eigenen Verdruss, dass sie darüber nachdachte. Mehr als den Bruchteil eines Augenblicks brauchte sie nicht dazu. Zögernd meinte sie: »Wer lesen kann, ist auch fähig zu schreiben.« Sie holte Luft, dann fügte sie hinzu: »Man könnte einen Brief schreiben und ihn den Tauben mitgeben.«
    »Wem würdest du denn schreiben wollen?«
    Darauf blieb Sanchia die Antwort schuldig.
    Die Äbtissin bedachte sie mit einem kurzen Seitenblick, sagte aber nichts. Sie hatten die Brücke überquert, die in eine Salizada mündete, an deren Seiten sich Palazzi mit vornehmer Fassadenverkleidung erhoben. Am Ende der Straße wurden die Gebäude nüchterner, bis sie schließlich zu einem großen, aber einfach gestalteten Haus kamen. An der Pforte war eine Inschrift angebracht, und zum ersten Mal in ihrem Leben überkam Sanchia ein vages Gefühl von Unzulänglichkeit, und sie ahnte, dass sie jetzt sofort gewusst hätte, was hinter dieser Tür zu finden wäre – falls sie die Schrift hätte lesen können. So konnte sie es nur erraten, denn in diesem Moment erklärte Albiera: »Wir sind da.«
    Während ihnen die Tür geöffnet wurde, brach unerwartet ein Tumult los. Von einem Augenblick auf den nächsten war die eben noch beschaulich in der Vormittagssonne liegende Gasse von wildem Lärm erfüllt. Menschen drängten heran, weinend, schreiend, die Gesichter von Ruß geschwärzt. Sie trugen und stützten hustende und blutende Verletzte, deren Kleidung teils versengt, teils zerrissen war.

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