Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
entbunden – es ist normal. Und nicht nur das. Es ist nützlich und wichtig. Es ist das, was Gott uns mitgegeben hat. Einer jeden von uns. Tritt näher und schau hin.«
Sanchia gehorchte, zuerst widerstrebend, dann mit wachsendem Interesse – und schließlich fasziniert. Es war gewöhnungsbedürftig, aber dann fand sie rasch, dass der Anblick tatsächlich von einer besonderen Ästhetik war.
»Man nennt es Vulva. Das hier sind die Schamlippen. Sie verschließen den inneren Teil, der die Bezeichnung Vagina trägt. An alldem ist nichts – ich wiederhole: nichts! –, dessen wir uns je schämen müssten. Ich nicht, du nicht …« – Sie deutete auf die junge Frau – »Constanza nicht und auch sonst keine Frau.« Sie dachte kurz nach, dann setzte sie hinzu: »Und dasselbe gilt auch für die Gefühle, die es uns vermittelt, ob es nun Schmerz oder Vergnügen ist. All das ist Teil der natürlichen Weiblichkeit. Wenn Gott es so eingerichtet hat, kann es folglich nicht von Natur aus Sünde sein. Hast du mich verstanden?«
Sanchia nickte zögernd, obwohl die Erkenntnis, die Albiera ihr mit ihren eindringlichen Worten vermittelt hatte, eher vager Natur war. Doch sie hatte eine ungefähre Ahnung, in welche Richtung die Ausführungen zielten, und deshalb verinnerlichte sie die Worte und merkte sie sich mit derselben Leichtigkeit wie alles, was ihr wichtig vorkam.
Albiera teilte vorsichtig mit den Fingern die dunkelroten, faltigen Schamlippen der Gebärenden, bis das hellere, feuchtglänzende Gewebe der Vagina sichtbar wurde.
»Ich taste mich mit den Fingern vor«, sagte sie ruhig. »Weiter oben ist eine wulstige Öffnung, die sich bei der Geburt glättet und weitet. Das Kind wird im Leib der Mutter von einem Organ umschlossen, das man Gebärmutter nennt. Wenn die Wehen einsetzen, spannt sich dieses Organ in regelmäßigen Abständen kräftig an, immer stärker, und durch den Druck dehnt sich die Öffnung, die in der Scheide der Frau mündet, immer mehr, bis der Kopf des Kindes hindurchpasst. Er ist der größte Teil am Körper eines Neugeborenen, der Rest ist schmaler.«
Sanchia nickte, das leuchtete ihr ein. Sie hatte schon Neugeborene gesehen, und die hatten im Verhältnis zum übrigen winzigen Körper tatsächlich einen enormen Kopf.
»In dieser letzten Phase einer Geburt verändern sich die Wehen. Die Gebärende bekommt plötzlich den starken Drang, zu pressen. Es ist die Aufgabe der Hebamme, diesen Vorgang ganz besonders zu überwachen, denn wenn der Druck nicht ausreicht, muss nachgeholfen werden. Es muss auch Acht gegeben werden, dass dem Drang nicht zu früh nachgegeben wird oder dass nicht zu heftig gepresst wird, weil dann das Dammgewebe …« – sie deutete auf den Bereich zwischen Schamlippen und Anus – »reißen könnte. Das passiert zwar trotzdem oft, aber es ist sehr unangenehm für die Frauen.«
»Ich will nicht reißen«, jammerte Constanza.
»Wir werden unser Bestes geben, es zu verhindern«, versprach Albiera.
»Wie lange dauert es denn noch?« Constanza starrte die Äbtissin verängstigt an, dann atmete sie plötzlich schneller und fing an zu wimmern. Das Geräusch ging einen Moment später in das gleiche laute Geschrei über, das sie vorhin schon von sich gegeben hatte.
»Du bist zwei Fingerbreit offen«, sagte Albiera, als die Wehe verebbt war. »Es kann noch den ganzen Tag dauern.«
Sanchia war entsetzt. Das sollte die arme Frau den ganzen Tag aushalten?
Wie sich in der Folge herausstellen sollte, war es nur der Anfang dessen, was das Schicksal noch an Schmerzen für Constanza bereithielt.
Albiera hatte entgegen ihrer üblichen Absicht beschlossen, hier zu bleiben, statt in einigen Stunden nochmals wiederzukommen, und obwohl Sanchia den Eindruck hatte, dass diese Änderung im Arbeitsplan der Äbtissin ihretwegen stattfand, nahm sie begierig die Gelegenheit wahr, alle Einzelheiten der fortschreitenden Geburt aufmerksam zu beobachten.
Es war eine blutige Angelegenheit, von einer urtümlichen, machtvollen Intensität, die Sanchia bereits nach kurzer Zeit das Gefühl vermittelte, sich mit der jungen Frau und der Äbtissin gemeinsam in einer Enklave zu befinden, in der die Zeit stehen geblieben war und in der es nichts gab außer den wiederkehrenden Schmerzen und den Schreien – und der unaufhaltsamen Gewalt, mit der dieser archaische Akt nach Vollendung strebte.
Nach stundenlangen, immer stärkeren Qualen – während derer der werdende Vater verschwunden blieb –
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