Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
die brennenden Kräuter, schwenkte die Klinge durch die Flamme und senkte das Skalpell auf die dickste Beule dicht bei der Achselhöhle.
Ambrosio wand sich und begann zu kreischen, als würde er gehäutet, was vermutlich in etwa dem Grad der Schmerzen entsprach, die er erdulden musste. Seine schrillen Schreie hörten erst auf, als Blut und Eiter in erschreckender Menge abgeflossen waren.
»Habt Erbarmen«, keuchte er.
»Aber das haben wir doch«, sagte Simon, während er das Messer für den nächsten Schnitt ansetzte.
»Ihr sollt verdammt sein! Alle sollt ihr verdammt sein!«
»Das sind wir schon längst«, sagte Albiera leise.
Sanchia hörte das unmenschliche Gebrüll schon beim Betreten des Palazzo. Es schallte durch die Nacht wie der gepeinigte Schrei einer von Gott verlassenen Seele, die alle Qualen des Fegefeuers gleichzeitig erdulden musste. Erst, als sie auf der Treppe zum Portego war, erkannte sie, dass es der Mönch war, der so schrie.
Sie holte tief Luft und zwang sich, weiterzugehen. Niemand würde sie davon abhalten, die Äbtissin zu holen.
Als sie durch den Torbogen kam, sah sie sich unvermittelt einem Bildnis des Schreckens gegenüber. Der jüdische Arzt, Schwester Annunziata und die Äbtissin knieten wie auf einem religiösen Gemälde in beinahe malerisch anmutender Pose rund um den ausgestreckt auf einer niedrigen Bettstatt liegenden Dominikaner. Er war nackt und mit Armen und Beinen an die Bettpfosten gefesselt, was ihn wie eine Karikatur des Gekreuzigten aussehen ließ. Simon, der Jude, hob ein blitzendes Messer und senkte es in eine blutende Grube in der Leiste des Kranken.
Sanchia schüttelte ruckartig den Kopf, um diese absurde Golgatha-Parodie zu vertreiben. Beim nächsten Hinschauen sah sie nur den Arzt, zwei Nonnen und einen pestkranken Mann.
Albiera hatte gemerkt, dass jemand den Raum betreten hatte. Sie blickte über die Schulter. »Was tust du hier, Kind?«
Unsicher blickte Sanchia sich um. Ihre Augen weiteten sich, als sie das volle Ausmaß des Grauens erkannte. Durch den offenen Durchgang zur Nachbarkammer sah sie die schlaffen Körper unter den Leichentüchern. Der nach verbrannten Kräutern riechende Rauch, der aus mehreren Schalen aufstieg, vermochte nicht den süßlichen Gestank nach Verwesung, Blut und nässenden Schwären zu überdecken. Der Fußboden war schmutzig und von gebrauchten Bandagen und Tüchern voller Wundsekrete und Exkremente übersät. In den Ecken verbreiteten Kerzen ein dürftiges Licht. Die Hitze, die im Raum stand, war kaum auszuhalten. Die Sonne hatte den ganzen Tag auf das Kloster niedergebrannt, bis sich am Ende alle Bewohner wie im Fegefeuer gefühlt hatten. Niemand hatte gewagt, die Fenster zu öffnen, aus Angst vor dem Pesthauch, den der Wind in alle Winkel wehte.
Simon legte saubere Leinentücher über die aufgeschnittenen Abzesse am Körper des Dominikaners und richtete sich mühsam auf.
»Sanchia, halte dir ein Tuch vors Gesicht und komm her.«
»Nicht«, sagten Albiera und Annunziata gleichzeitig.
»Sie will es sehen«, erklärte Simon.
Sanchia merkte beklommen, dass er Recht hatte. Sie wollte wissen, wie die Pest aussah. Bis jetzt hatte sie nur Weinen und Schmerzensschreie gehört und den Gestank des Todes gerochen. Sie und Eleonora waren zum tagelangen Warten in der Zelle verdammt gewesen. Niemand hatte sich um sie gekümmert, bis auf die Conversa, die einmal täglich kam, um ihnen Essen und Wasser zu bringen. Sie hatten nicht einmal auf den Abtritt gehen dürfen, sondern mussten einen Eimer benutzen, den sie hinter einem selbst fabrizierten Wandschirm aus Leinentüchern und zwei Stühlen aufgestellt hatten und der einmal am Tag abgeholt wurde.
»Schau.« Simon lüpfte die Bandagen. »Sieh dir die Beulen an.«
Sanchia drückte sich einen Zipfel ihres Gewandes vor Mund und Nase und trat näher. Am Körper des Mönchs traten mehrere Beulen hervor, von denen einige größer waren als ihre geballte Hand. Sie ähnelten knolligen, verstümmelten Gliedmaßen, sogar jetzt noch, nachdem sie bereits ihre verdorbenen Säfte abgesondert hatten.
»Der Krankheitsverlauf ist nicht immer derselbe«, erklärte Simon. »Es fängt jedoch stets mit hohem Fieber und Kopfweh an. Schüttelfrost, Krämpfe, Schmerzen. Danach kann die Krankheit sich mal so, mal so entwickeln. Sieh her. Wenn der Patient solche Beulen bekommt, die nach außen aufbrechen oder aufgeschnitten werden können, kann er überleben. Fängt er aber an zu husten, stirbt er. Bekommt er
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