Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Heimat Briefe schreibt, und eines in der Ferne, das ihm den Bart krault«, rief einer der beiden Matrosen, das lückenhafte Gebiss zu einem breiten Lächeln entblößt. Bei seinen letzten beiden Worten griff er sich anzüglich in den Schritt.
Lorenzo fuhr mit dem Zeigefinger den Tauben sacht über die glatten Federn und schaute zu, wie sie ihre angestammte Heimat in Besitz nahmen.
Ohne auf die schlüpfrigen Bemerkungen der Matrosen zu achten, löste er vorsichtig die Botschaft vom Fußring des Männchens und verzog sich eilends in den Schatten hinter den Hauptmast, um dort ungestört lesen zu können.
Er sah sofort, dass der Brief nicht von Eleonora stammte. Die Schrift war ebenfalls unausgereift, aber mit weit größeren, eleganteren Buchstaben, die in eigenwilliger Weise nach links geneigt waren. Hier und da gab es einen kleinen Fehler, aber es war kein Vergleich zu den orthographischen Ungetümen, die er sonst zu lesen bekam.
Lorenzos Augen glitten zum Ende des Textes. Jeder Fingerbreit der kleinen Pergamentrolle war beschrieben, doch der Brief war nicht unterzeichnet. Stirnrunzelnd überflog er die Zeilen.
Messèr Lorenzo,
ich habe keine Ahnung, wie man einen Brief schreibt. So gut wie Ihr kann ich es nicht, das muss ich noch üben. Ich weiß, ich muss mich kurz fassen. Eleonora hat seit gestern die Pest. Sie möchte von Euch hier herausgeholt werden. Niemand kommt sie besuchen. Sie hat Angst zu sterben, ohne Euch wiederzusehen. Ich habe ihr versprochen, dass Ihr kommt und sie holt. Macht, dass es keine Lüge ist!
Bringt Ihr den Erfinder mit nach Venedig? Kann ich seine Entwürfe ansehen? Wie kann der Taucher unter Wasser atmen und gleichzeitig sehen? Ist die Scheibe an dem Taucherhelm aus Glas? Mein Vater war Glasmacher. Er ist tot. Genau wie meine Mutter. Sie schnitten meiner Mutter den Hals durch und stachen meinem Vater in den Leib, bis er tot war. Ich sollte auch sterben, aber die Mörder nahmen mir nur das Haar.
An dieser Stelle war die Schrift unruhig, fast verzerrt, dann ging es in krakeligen Buchstaben weiter.
Eure Mutter wollte, dass ich tot bin. Monna Caloprini.
Danach hörte der Brief abrupt auf.
Erschüttert ließ Lorenzo den schmalen Papierbogen sinken.
Albiera öffnete für einen Moment die Augen, als sie etwas Kaltes an ihrer Wange spürte. Viel konnte sie nicht sehen. Es war Nacht, und die Kerzen in den Zimmerecken waren fast heruntergebrannt. Von irgendwoher kam der monotone Klang von Psalmengesängen. Mit schwachem Grimm dachte Albiera an den Pfaffen, den sie schon wieder hatte aufstehen sehen, bevor sie selbst von der Krankheit niedergestreckt worden war. Vermutlich lief er bereits emsig umher und stachelte alle Welt zum Psalmensingen an. Wenn auch die Kraft kaum zum Leben reichte – beten konnten die Frauen von San Lorenzo immer noch.
Albiera fror bis ins Mark und wusste doch gleichzeitig, dass sie vor Fieber glühte. Ihr Kopf schmerzte zum Zerspringen, und ihre Lippen spannten vor Trockenheit. Doch das alles war nichts im Vergleich zu der Erkenntnis, dass ihre Arme von der Schulter bis zu den Handgelenken von blauschwarzen Flecken übersät waren. Mehr konnte sie von ihrem Körper nicht erkennen, doch sie war sicher, dass es unter ihrem Hemd genauso aussah. Ihr war klar, was das bedeutete. Als die Beulen angeschwollen waren, hatte sie noch gedacht, dass sie es schaffen könne. Doch dann war der Husten gekommen, und jetzt noch die Flecken. Es war an der Zeit, Abschied zu nehmen.
»Annunziata?«
»Ich bin hier, meine Schwester. Hier ist Wasser, trink.«
Die Kühle an ihrer Wange wurde intensiver und glitt zu ihren Lippen, die sich wie von allein öffneten, damit das Wasser hindurchfließen konnte. Sie merkte, dass es nicht nur Wasser war, sondern etwas Stärkeres. Von vager Dankbarkeit erfüllt, wollte sie nach Annunziatas Hand greifen. Doch ebenso gut hätte sie versuchen können, einen Felsblock zu bewegen. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr.
»Weißt du noch?«, fragte Annunziata weinend. »Die frechen kleinen Affen? Wie sie alle beide auf das Dach des Palazzo geklettert sind, und Papa fluchte, weil sie Äpfel in den Kamin warfen? Und weißt du noch …« Ihre Stimme brach. Es war auch nicht nötig, dass sie weitersprach, denn natürlich wusste Albiera noch alles. Sie hatte die Augen geschlossen und sah ihre Schwester dennoch vor sich, als Baby, als Kleinkind auf dem Marmorboden des Portego krabbelnd, als Frechdachs von sieben Jahren, mit den Affen um die Wette
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