Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
für die Krankheit ursächlich waren, hier ihren Ausgang genommen hatten. Nur zwei Tage später wurden dann auch die ersten Krankheitsfälle aus dem Arsenal gemeldet, und die Stadtoberen schickten sich mit fieberhafter Eile an, den Schaden zu begrenzen.
In den letzten großen Pestjahren, 1423 und 1468, waren vom Rat bereits Quarantänestationen eingerichtet worden, in die nun eilends alle Kranken geschafft wurden, deren man habhaft werden konnte. Doch es waren zu viele, um alle unterzubringen, und manche waren längst tot, bevor sie abtransportiert werden konnten. Die amtlichen Leichensammler und Medici, angetan mit monströsen, schnabelartigen Schutzmasken und bodenlangen Umhängen, arbeiteten rund um die Uhr. Der durchdringende Gestank von brennendem Schwefel waberte durch die Straßen, und in den Kirchen wurden unaufhörlich Psalmen zu Ehren der Pestheiligen Sankt Sebastian und Sankt Rochus intoniert.
Allen Gebeten zum Trotz starben in den Gassen der Stadt die Menschen zu hunderten. Leichen wurden vor den Türen gestapelt oder in der Not in die Kanäle geworfen, wo sie aufgedunsen und von Fliegen umschwärmt in der Mittagshitze trieben. Kein Gebet und kein Glockengeläut lud die Hinterbliebenen zur Trauerprozession ein. Die Toten wurden hastig zu Brachen am Stadtrand geschafft und dort verscharrt oder verbrannt.
Verwandte belagerten das Kloster und begehrten Einlass. Unter ihnen waren Mütter und Väter, die sich weigerten, ihre Kinder allein sterben zu lassen. Albiera gewährte ihnen Eintritt. Wer war sie, sterbenden Kindern in ihren letzten Stunden den Trost der Eltern zu versagen? Sie hatte Mitleid, und andere mussten den Preis dafür zahlen. Nicht wenige Mütter lagen nach zwei durchwachten Nächten tot am Bett ihrer Töchter, die Haut schwarz von Pestflecken. Wieder andere Eltern holten ihre Töchter nach Hause, nur um dort mit ihnen gemeinsam zu sterben.
Als geradezu perfide empfand Albiera den Umstand, dass der Mönch immer noch lebte. Am fünften Tag war sein Fieber ungebrochen hoch, und sein Körper schien nur noch aus Sehnen und vertrockneter Haut zu bestehen, aber er weigerte sich, zu sterben. Er stank derart nach innerer Fäulnis, dass es einem die Luft abschnürte, doch er hörte nicht auf zu atmen.
In der Achselhöhle und Leistenbeuge des Mönchs hatten sich faustgroße Pestbeulen gebildet, prall vor Eiter. Albiera assistierte Simon bei der Eröffnung. Mit dem Skalpell war er wesentlich geschickter als sie. Dafür hatte sie vorher eigenhändig dem Dominikaner die Hände ans Bett gebunden und auch mit Stricken die Füße gefesselt.
Nackt und mit aufgerissenen Augen lag er vor ihr, sein magerer Körper verunstaltet von den Ausbuchtungen unter der fahlen Haut.
Die Ähnlichkeit seines verkrümmten Leibs mit dem am Kreuz leidenden Erlöser bestürzte nicht nur Albiera. Annunziata, die den Raum kurz vor der Prozedur betrat, bekreuzigte sich mit angewiderter Miene.
»Man sollte ja denken, dass er es verdient hat«, brummte sie. »Aber muss er dabei unbedingt so aussehen wie jemand, den wir über alle Maßen schätzen?«
»Stell dir vor, er wäre einer der beiden Verbrecher, die rechts und links neben ihm ans Kreuz geschlagen wurden«, schlug Simon launig vor.
Diese Bemerkung schien Annunziatas derben Sinn für Humor zu treffen. Sie lachte mit gebleckten Zähnen auf den Mönch hinab, was diesen zu einem lauthals gestammelten Bittgebet inspirierte, in dem er um Vergebung für all seine Sünden flehte.
»Hört auf, alle beide«, sagte Albiera müde. »Er steht vor seinem Schöpfer und sollte für niemanden Grund zur Belustigung sein.«
Annunziata senkte den Kopf. Sie raffte ihr nachlässig geschnürtes Kleid über dem voluminösen Busen zusammen und wandte sich ab, um eine Schale mit Kräutern zu entzünden – nicht, weil sie meinte, damit die giftigen Dünste zu vertreiben, sondern weil der Gestank von Pestilenz und einsetzender Verwesung einfach unerträglich war. Am frühen Mittag waren zwei weitere Nonnen gestorben, die noch in der Kammer nebenan lagen und nicht vor dem nächsten Morgen abgeholt werden würden.
»Nein«, flüsterte Ambrosio kaum hörbar.
Simon beugte sich über ihn. »Was wollt Ihr?«
»Kein … Jude … soll Hand an mich legen!«
Simon lachte. »Was Ihr nicht sagt. Wenn Ihr mögt, könnt Ihr ja Klage gegen mich beim Rat der Zehn führen. Vorausgesetzt, Ihr lebt so lange. Und trefft obendrein noch jemanden der Ehrenwerten Zehn lebendig an.« Er hielt das Messer über
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