Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
leisten, irgendetwas zu tun, egal was. Sanchia blieb an Albieras Seite und hielt weiter ihre Hand, die Blicke unverwandt auf das Gesicht der Äbtissin gerichtet. Albiera erkannte das Flehen in den Augen des Kindes und wollte ihr sagen, dass sie bald sicher in Gottes Hand ruhen würde. Doch sie brachte keinen Laut mehr heraus. Nicht nur, weil ihre Kehle von Blut und Schleim verstopft war, sondern weil sie plötzlich von einer erbärmlichen Angst gepackt war. Sie wollte nicht sterben! Nicht auf diese schmerzhafte, schmutzige Art! So würdelos, in ihrem eigenen Blut und ihren stinkenden Exkrementen schwimmend! Was hatte sie getan, dass Gott sie so strafte?
Doch ein letzter Hilfe suchender Blick in die Augen des Kindes und ihrer Schwester zeigte ihr, dass nichts vergebens gewesen war. Wenn sie schon gehen musste, so ging sie reich an Liebe, und alles, was sie je an Hinwendung gegeben hatte, wurde ihr durch diese letzten Blicke vergolten.
Gott, ich danke dir. Nimm meine Seele bei dir auf, und sei denen gnädig, die ich jetzt verlasse.
Sanchia schüttelte wie schon vorhin heftig den Kopf, als könne sie durch diese störrische Geste das Unausweichliche verhindern. Die Äbtissin lebte noch, aus ihrer Brust stieg ein kaum hörbares Rasseln. Es musste nicht aufhören. Nicht, wenn sie fest daran glaubte. Annunziata war neben dem Bett ihrer Schwester zusammengebrochen und schluchzte, das Gesicht in einem Zipfel ihres Gewandes vergraben.
Aus allen Ecken und Winkeln des Klosters waren die Geräusche zu hören, die schon den ganzen Tag angehalten hatten. Das allgegenwärtige Weinen, das Husten und das Scharren, mit denen die Toten durch die Gänge und über die Treppen geschleift wurden. Aus weiterer Ferne hallten dumpf die Trommeln herüber, die den Weg der Leichenboote begleiteten. Es roch nach Rauch, Blut und Verwesung.
Sanchia hielt die Hand der Äbtissin immer noch umklammert, als könne sie durch ihre bloße Berührung verhindern, dass auch noch der Rest von Leben herausströmte.
Als das Gebrüll von Männern unten im Hof laut wurde, hob Annunziata das tränenüberströmte Gesicht. Vereinzelt waren jetzt auch die schrillen Schreie von Frauen und Mädchen zu hören, und während Annunziata aufsprang und zum Fenster rannte, ahnte Sanchia, dass eine neue Gefahr auf sie zukam.
»Plünderer«, sagte Annunziata. »Als Nächstes werden sie hier reinkommen und schauen, was zu holen ist. Komm mit.« Sie fasste Sanchia bei der Hand und zerrte sie aus dem Zimmer zur Treppe. Doch sie hatten kaum das Piano nobile erreicht, als auch schon von unten schwere Schritte zu hören waren. Annunziata packte Sanchia fester und tastete mit der freien Hand in die Dunkelheit. Es gelang ihnen, sich auf die schmale Brüstung eines winzigen Balkons zu drängen, bevor die Männer unter dem Torbogen auftauchten, der das Treppenhaus mit dem Portego verband.
»Wenn überhaupt, dann werdet Ihr hier die Schätze der Nonnen finden«, sagte jemand in weinerlichem Tonfall. Es war die Stimme von Bruder Ambrosio. Im nächsten Moment konnten sie ihn auch sehen. Das Licht einer Talgleuchte, die ein abgerissen gekleideter Mann vor sich hertrug, erhellte eine bizarre Szenerie. Der Mönch kam vor dem Mann die Treppe hinaufgetorkelt, barfuß und notdürftig von seiner übel riechenden, fleckigen Kutte umhüllt. Offenbar hatten ihn die Plünderer von seinem Lager aufgescheucht, das er in den letzten Tagen immer nur für kurze Zeit hatte verlassen können. Er war noch unsicher auf den Beinen und umklammerte mit beiden Händen das dick geflochtene Seil, das als Geländer diente.
»Bitte lasst mich ausruhen! Ich bin eben erst von der Pest genesen!«
»Du warst stark genug, uns zu den Kammern mit den schönsten Nonnen zu führen. Das bisschen Kraft, uns das Gold dieser Krähen zu zeigen, solltest du auch noch haben, sonst könntest du es bedauern, dass die Pest dich verschont hat.«
Zwei andere Männer, die Ambrosio auf dem Fuße folgten und ebenso heruntergekommen aussahen wie der erste, stießen den Dominikaner grob beiseite und machten sich daran, die Gobelins von den Wänden zu reißen und in den Truhen zu wühlen, die an der Wand standen. Der eine gab ein angewidertes Grunzen von sich, weil er nichts weiter fand als aufgewickelte Leinenbahnen.
Der dritte Mann schaute dem Treiben eine Weile zu. »Ich sehe lieber oben nach«, sagte er zu den beiden anderen, während er den Mönch mit einem Tritt aufforderte, voranzugehen.
Ambrosio fügte sich, doch sein
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