Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
kletternd. Als pestkranke Novizin im Alter von dreizehn Jahren, ein sieches Bündel, nur einen Hauch vom Tod entfernt. Dann als junge Frau von achtzehn, schön und temperamentvoll wie eine Königin, das Haar lang und so glänzend wie Seide.
Sie waren einen langen Weg gemeinsam gegangen, der heute noch, in diesem Zimmer, enden würde. Wie aus weiter Ferne verfolgte Albiera, wie ihre jüngere Schwester neben dem Bett auf die Knie fiel und weinend das Gesicht in ihre offene Hand presste.
Ein Geräusch kam von der anderen Seite des Bettes, und Albiera wurde gewahr, dass noch jemand im Raum war. Mühsam wandte sie den Kopf und zwang erneut ihre Augen auf. Es war das Kind, Sanchia. Bleich und aufrecht stand es da. Das Lockenhaar umrahmte ihren Kopf wie eine zerzauste Gloriole, und überrascht erkannte Albiera, dass die Kleine sie anlächelte.
»Ihr werdet leben«, sagte Sanchia mit einer Stimme, die von fester Zuversicht getragen war. »Eure Schwester hat durch Eure Pflege die Pest überlebt, und Ihr werdet es ebenfalls schaffen. Der Doge selbst wird kommen und Euch hier herausholen.«
Albiera spürte, wie ihre schmerzenden Lippen sich zu einem Grinsen verzogen. Sie hatte ihren Bruder in ihrer Jugend stets aufrichtig geliebt und war ihm immer noch zugetan, aber wenn der gute Giovanni je etwas anderes im Sinn gehabt hatte, als sich im Glanz der Öffentlichkeit zu sonnen, dann höchstens die Frage, ob er auf den Gemälden besser aussah als seine Vorgänger. Er war nicht mehr der Jüngste, und er würde seine letzten Jahre bestimmt nicht dadurch aufs Spiel setzen, dass er sich mitten in eine Pesthölle wagte. Als Annunziata vor mehr als dreißig Jahren um ein Haar an der Seuche gestorben war, hatte er sich auch nicht blicken lassen, und damals war er noch sehr gut zu Fuß gewesen.
»Mein Kind«, sagte sie. Es kam als schwaches Krächzen heraus, aber immerhin waren die einzelnen Worte halbwegs verständlich. »Du bist ein besonderer Mensch.«
Sanchia schüttelte heftig den Kopf, und Albiera begriff, wie sehr das Mädchen um seine Fassung rang. Das Lächeln war nur aufgesetzt, und der ganze kleine Körper zitterte förmlich vor Anstrengung, es beizubehalten. Albiera versuchte, sich an die letzten Tage zu erinnern. Das Meiste davon war weg, verschwunden in einem Nebel aus Schmerz und Fieberträumen. Doch sie wusste noch, wie sie der Kleinen von der heilenden Kraft der Hoffnung erzählt hatte, in der Nacht, als sie bei Eleonora die Pestbeulen geöffnet hatten. Sie erinnerte sich sogar an die Worte, die sie gewählt hatte. Wenn man daran glaubt, dass man leben wird, kann man es auch. Unvermittelt erkannte sie, dass das Kind gemeinsam mit ihrer Schwester an ihrem Bett gewacht haben und bei der Pflege geholfen haben musste. Mochte Annunziata auch versucht haben, sie wegzuschicken – Sanchia hatte bei ihr ausgeharrt. Um ihr Hoffnung zu machen.
»Nimm meine Hand«, flüsterte Albiera.
Ohne zu zögern, streckte Sanchia die Hand aus, und Albiera sah, dass die Kleine etwas festgehalten hatte. Es war ein Anhänger, der an einem schmalen Lederriemen um ihren Hals hing. Sie hatte die Finger so fest darum gekrampft, dass sich ein Muster in ihre Haut eingegraben hatte.
»Was ist das?«
»Ich weiß nicht, vielleicht ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen«, sagte Sanchia mit schwankender Stimme.
»Das ist … schön …«
Sanchia hatte sie verstanden, ging aber nicht auf ihre Worte ein. Ihre Züge spiegelten nun ihre wirklichen Gefühle wider. Ihr Gesicht war starr vor Angst.
»Ihr müsst daran glauben! Bitte, glaubt doch ganz einfach daran!«
Albiera fühlte, wie die Hand in ihrer zitterte.
»Du bist hier immer gut aufgehoben, auch wenn ich nicht mehr da bin. Dein Geld wurde nicht angetastet und wird auch weiterhin unberührt in der Schatulle deines Vaters bleiben. Wenn du eines Tages von hier fortgehst, dann in dem Wissen, dein Leben frei gestalten zu können.« Sie wusste nicht, ob es ihr gelungen war, all diese Worte wirklich auszusprechen, aber sie hatte keinen Zweifel, dass das Kind sie verstanden hatte. Es war ohnehin gleichgültig, denn Annunziata würde auf alles achten. Sie wollte noch etwas sagen, doch sie bekam nicht mehr richtig Luft. Auf ihrer Brust schien ein tonnenschweres Gewicht zu lasten, und als bei ihrem nächsten Atemzug ein Hustenstoß aus ihr herausbrach, ergoss sich ein Schwall von klumpigem Blut auf die Bettdecke.
Annunziata schrie entsetzt auf und sprang auf die Füße, hektisch bemüht, Hilfe zu
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