Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
vorn unter die Kutte geschoben und bewegte sie dort ruckartig auf und ab.
Sanchia war wie angewurzelt vor der Kammer stehen geblieben. Der Dominikaner nahm ihre Gegenwart wahr, und ihre Blicke trafen sich. Er hob die Hand vom Gesicht der Äbtissin und fuhr sich durch das schüttere Haar, das auf Ekel erregende Weise dem Fell einer räudigen Ratte glich.
»Ich habe ihr die Letzte Ölung gegeben«, sagte er mit unbewegter Miene, während seine Rechte sich unablässig weiter unter der Kutte bewegte. »Komm her, mein Kind. Lass uns zusammen ein Gebet für die Seele der armen Verstorbenen sprechen.« Als sie nicht gehorchte, tat er einen Schritt auf sie zu.
Sanchia floh in stummem Entsetzen zur Stiege am Ende des Ganges. Sie war auf dem Dach, bevor er die Kammer verlassen hatte. Oben blieb sie zitternd stehen und wartete auf seine Schritte, doch inzwischen hatten weitere Männer das Dachgeschoss erreicht. Ihre wüsten Ausrufe und ihr Gelächter hallten aufs Dach hinaus.
Sanchia konnte hören, wie der Mönch die Männer darauf hinwies, dass sich eine Nonne auf dem Dach versteckt hielt. Kaum einen Atemzug später war auch schon das Klappern von Holzschuhen auf der Stiege zu hören.
Sie biss sich auf die Lippen, bezwang ihre Furcht und trat an die Luke, um sie zuzuwerfen. Doch der Holzdeckel war zu schwer, sie konnte ihn kaum anheben. Bevor sie zurückweichen konnte, schoss schlangengleich eine Männerhand ins Freie und packte sie am Bein.
»Ich hab sie!«, schrie eine betrunkene Stimme dicht unter ihr.
Es gelang ihr, sich loszureißen. Ihr Gewand flatterte um ihre Beine, als sie seitwärts auf die Altana floh. Die Plattform war so morsch, dass sie schon nach zwei Schritten einbrach und um ein Haar in die Tiefe gestürzt wäre. Mit rudernden Armen blieb sie stehen und rang darum, das Gleichgewicht wiederzuerlangen.
»He, bleib doch da! Wir wollen nur ein bisschen Spaß mit dir haben!«
Sie hatte den Rand der Altana erreicht. Drei Stockwerke unter ihr gähnte der schwarze Schlund des Kanals. Sie konnte bis hier herauf das Schwappen des Wassers gegen die Mauern hören und das reibende Geräusch, mit dem die Gondeln an die Stäbe geschoben wurden. Die Dunkelheit war im Freien nicht so undurchdringlich wie im Palazzo. Der Widerschein der Fackeln ließ genug von der Umgebung erkennen, um Sanchia klarzumachen, dass sie es nie und nimmer schaffen würde, unbeschadet von hier wegzukommen. Ihr Verfolger hatte sich hinter ihr durch die Luke gestemmt und kam mit wiegenden Schritten näher. Die Höhe schien ihm nichts auszumachen. Er war fast kahl und dicklich und strahlte sie an wie ein guter Freund.
»Komm schon, kleine Nonne. Es geht ganz schnell!«
Sie wollte zurückweichen und strauchelte, als ihre Ferse auf die hölzerne Auskragung des Gebälks traf, auf dem die Dachschindeln ruhten. Unter ihrem Fuß knackte es, und dann bröckelte das Holz weg, als bestünde es aus eingeweichtem Brot. Sie fing sich gerade noch, tat einen Satz nach vorn und kam mühsam wieder zum Stehen.
Der Mann machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Sanchia schaute über die Schulter nach unten. Die Boote lagen dort dicht an dicht vor dem offenen Tor. Ihr Körper würde nicht im Wasser aufschlagen, sondern inmitten von hartem Holz.
Aber sie war noch nicht tot. Ein Impuls trieb sie dazu, dem Feind ins Gesicht zu schauen. Angst schnürte ihr die Luft ab, aber sie war entschlossen, mit demselben Mut unterzugehen wie ihr Vater. Stolz hob sie den Kopf und reckte die Schultern, die Faust um ihren Glücksbringer gekrampft. Sie war Sanchia Foscari, die Tochter des Glasbläsers!
Der brüllende Donnerschlag, der im nächsten Augenblick die Nacht zum Erzittern brachte, hätte sie vor Schreck beinahe doch noch vom Dach stürzen lassen. Der Mann vor ihr war ebenso schockiert wie sie und wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Krachen gekommen war. Im Klosterhof stieg stinkender dunkler Rauch auf und versperrte die Sicht.
Angstvolle Schreie schallten über das Gelände und waren weithin über die Mauern zu hören.
»Die Hölle hat sich aufgetan! Der Teufel kommt uns holen!«
Ein weiteres Donnern zerriss die Luft und brachte das Dach nachhaltig zum Vibrieren. Sanchia trat einen Schritt von der Dachkante weg und hockte sich hin, um besseren Halt zu gewinnen. Vor dem Mann musste sie sich nicht mehr ängstigen. Er hatte sich schon nach dem ersten Donnergebrüll zur Luke zurückgezogen und war wieder nach unten geklettert. Wenig später waren aus dem
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