Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Dachgeschoss Schreie und Schmerzenslaute zu hören.
Ein anderer Mann schob kurz darauf seinen Oberkörper nach draußen. Sanchia blinzelte betäubt, während sie versuchte, durch die schweflig riechenden Schwaden, die über das Dach trieben, die neue Bedrohung auszumachen.
»Ja, sie ist hier«, sagte der Mann nur. »Und sie ist unversehrt. Mein Gott, Annunziata, nun beruhige dich endlich!«
Zu ihrer Verblüffung sah Sanchia, dass es Jacopo, der Orangenhändler war. Er verschwand sofort wieder, um einem anderen Mann Platz zu machen. Dieser sah aus wie eine leibhaftige Ausgeburt der Hölle. Sein Haar stand in wilden Stacheln vom Kopf ab, und sein Gesicht war geschwärzt von Ruß und Rauch. Eine Augenklappe zog sich quer über sein Gesicht, doch keine noch so verrückte Maskerade konnte verhindern, dass Sanchia den Mann sofort erkannte. Ungläubig verfolgte sie, wie er sich mit einer geschickten Drehung seines Körpers aufs Dach hinaufzog. Ihr Entsetzen darüber, dass ihm ein Fuß fehlte, wurde von seinen Worten kaum abgemildert.
»Nun denn, immerhin«, sagte er. »Jetzt weiß ich wenigstens, wofür es gut war.«
»Sanchia, leg endlich das dumme Buch zur Seite und komm raus!« Eleonora stand in der offenen Tür des Scriptoriums und winkte ungeduldig. »Du verpasst sonst noch alles! Das ist so einmalig, und morgen schon kann alles wieder verschwunden sein! Deine langweiligen Bücher kannst du hinterher immer noch studieren!«
Sanchia musste zweimal hinsehen, um Eleonora zu erkennen. Es lag nicht an der bestickten Maske, die gehörte eher zur Grundausstattung in den Februartagen vor dem Giovedì grasso. Auch das offene Haar und die dünne Schicht Schminke auf den rosigen Wangen waren bei Eleonora nicht ungewöhnlich. Sie hasste ihren kräftig durchbluteten Teint, mit dem sie ihrer Meinung nach wie eine Bäuerin wirkte.
Außergewöhnlich war an diesem Tag jedoch ihre Bekleidung. Die meiste Zeit des Jahres hüllte sie sich in offenherzige Kleider aus kostbarer Seide oder feiner Baumwolle, doch heute hatte sie sich bis zur Unkenntlichkeit vermummt. Sie trug einen dicken wollenen Rock, unter dem nicht minder dicke Strümpfe herausschauten. Ihre Füße steckten in festen, groben Lederstiefeln, die aussahen, als wären sie ihr um einiges zu groß.
Das Bemerkenswerteste an ihr war jedoch das Kleidungsstück, das sie obenherum trug, kostbar schimmernd, aus dunkelbraunem, seidigen Haar.
»Was hast du da an?«, fragte Sanchia perplex.
Eleonoras Wangen röteten sich unter der weißlichen Zinkschminke. »Ich habe mir die Stiefel von Moses geborgt. Sieht es sehr schrecklich aus? Merkt man, dass es die Stiefel eines Stallknechts sind?«
»Ja. Aber das meine ich nicht. Was ist das?« Sanchia zeigte auf die Jacke. »Ein totes Tier?«
Eleonora verzog das Gesicht. »Es ist ein Pelz.«
»Es sieht nicht aus wie ein Pelz.«
»Das liegt daran, weil es nicht aus Karnickeln gemacht ist, sondern aus Zobel. Es sind die wertvollsten Pelze, die es gibt. Sie stammen aus der sibirischen Taiga und der Mongolei. Ich habe dir doch erzählt, dass mein Großvater mir eine Jacke geschenkt hat.«
Sanchia nahm es ohne sonderliches Interesse zur Kenntnis. Eleonoras Großvater, der sich noch nie im Kloster hatte blicken lassen, lebte in der gruftähnlichen Leere seines riesigen Palazzo in Santa Croce. Wie es hieß, umgab er sich mit Sklavinnen aus dem Fernen Osten und war der Haschischpfeife verfallen. Von Zeit zu Zeit beruhigte er sein schlechtes Gewissen, indem er seiner einzigen Enkelin kostbare Geschenke zukommen ließ.
»Das heißt, das Geschenk kam zwar mit einer Botschaft von ihm, aber ich denke, er selbst ist zu geizig, um von allein darauf zu kommen«, meinte Eleonora einschränkend. »Wenn es nach ihm ginge, könnte ich längst tot sein, dann hätte er eine Sorge weniger am Hals. Die Anregung, mir die Jacke zu schenken, stammte sicher von Monna Caloprini.«
Sanchia zuckte zusammen. Wie immer, wenn dieser Name erwähnt wurde, spürte sie den Drang, zu fliehen und sich zu verstecken. Doch da sie zu erwachsen war, um solchen Albernheiten nachzugeben, griff sie zum zweitbesten Mittel und lenkte einfach vom Thema ab.
»Was hast du vor? Mir ist es zu kalt, um rauszugehen. Außerdem ist das Buch nicht langweilig, sondern spannend.«
Spannend war nicht unbedingt der passende Ausdruck für den Avicenna , aber das aus fünf Büchern bestehende Gesamtwerk war allemal interessant genug, um den ganzen Tag darin zu schmökern und es
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