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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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abzuschreiben. Vieles von dem, was sie bisher gelesen hatte, fand nicht ihre ungeteilte Zustimmung. In der Geburtshilfe, der Chirurgie und der Fieberlehre hatte Albiera in ihren eigenen Aufzeichnungen zu manchen Punkten eine abweichende Ansicht vertreten, und Sanchia neigte dazu, sich der Äbtissin anzuschließen. Doch Avicennas Doktrinen der Arzneimittellehre und der Anatomie umfassten einen wahren Schatz an profundem, unvergleichlichem Wissen. Sie hatte fast ein halbes Jahr gebraucht, um den gedruckten Wälzer des großen Arztes und Denkers Vers für Vers abzuschreiben und mit Kommentaren zu versehen. Eine bessere Methode, die darin enthaltenen Lehren zu verinnerlichen, konnte sie sich kaum vorstellen – außer natürlich, sie allesamt in der Praxis anzuwenden, woran es indessen zu ihrem Leidwesen haperte. Sie ging zwar fast jeden Tag zu den Gebärenden und den Kranken, doch sie konnte sie nicht einfach aufschneiden und nachschauen, wie sie inwendig beschaffen waren. Noch konnte sie Arzneien an ihnen ausprobieren, von denen sie nicht einmal wusste, wie die Zutaten aussahen, geschweige denn, woher man sie bekam.
    »Du verdirbst dir noch die Augen damit. Außerdem wirst du dir die Blase verkühlen, wenn du den ganzen Tag hier in der Kälte herumstehst.«
    »Draußen ist es noch kälter.«
    »Aber da würdest du dich bewegen.« Eleonora hopste demonstrativ auf und ab. »Wer predigt ständig, dass Bewegung gesund ist? Na?«
    Diese Bemerkung entlockte Sanchia ein Grinsen. Eleonora hatte eine Art, jedermann ihre Begeisterung über die alltäglichsten Dinge mitzuteilen, dass in ihrer Gegenwart selten Trübsal aufkam. Und sie hatte natürlich Recht. Besonders anheimelnd war das Scriptorium im Winter nicht. In diesem Februar war es außergewöhnlich kalt, es hieß sogar allgemein, dass es der kälteste Wintermonat seit Menschengedenken sei. Im Scriptorium gab es keinen Kamin, sondern nur eine Kohlenpfanne, die so klein war, dass sie kaum eine Fläche von der Größe eines Tisches erwärmen konnte. Aus den Ecken des alten Gemäuers zog es zum Gotterbarmen, und in der Nähe der undichten Fenster war es so kalt, dass der Atem zu Dampf wurde. Außerdem war das Licht trotz der beiden Kerzen auf dem Schreibpult so trüb, dass schon nach einer Stunde Lesen die Augen schmerzten.
    Sanchia rieb unentschlossen ihre eisigen Finger und betrachtete den verschmierten Federkiel. Er war ausgefranst, sie hätte schon längst einen neuen anschneiden müssen.
    »So kann ich nicht rausgehen«, sagte sie.
    »Nein, natürlich nicht.« Mit einem triumphierenden Lächeln zog Eleonora einen Korb hinter ihrem Rock hervor und brachte ein monströses wollenes Wams zum Vorschein. Als Nächstes zog sie ein Paar Stiefel heraus, die jedoch weder grob noch abgenutzt waren, sondern exquisit geschnitten und aus so feinem Leder, wie es sonst nur für vornehme Beinkleider verwendet wurde.
    »Das sind deine Stiefel«, stellte Sanchia fest.
    »Das stimmt. Aber sie haben mir nie gepasst, auch nicht damals, als ich sie bekommen habe. Für deine Füße müssten sie genau richtig sein. Zumindest dann, wenn du dicke Socken darin trägst.« Sie zuckte die Achseln. »Es wäre eine Sünde, diese perfekten Stiefel nicht zu benutzen.« Kichernd setzte sie hinzu: »Ich trage meinen kostbaren Pelz und die Stiefel des Stallknechts, und du meine herrlichen Stiefel und dafür das Wams des Stallknechts.«
    Mit einem aufmunternden Lächeln hielt sie Sanchia die genannten Kleidungsstücke hin und ruhte nicht eher, bis ihre Zimmergenossin beides übergezogen hatte. Aus den Taschen ihres Rocks förderte sie anschließend sogar noch wollene Fäustlinge, eine Mütze und einen Schal für Sanchia zu Tage. »Komm, beeil dich. Die anderen sind schon alle draußen! Sie sind mit Elisabettas Bruder und seinen Freunden losgezogen. Wir haben ausgemacht, dass wir uns auf der Piazetta treffen. Nun mach! Moses wartet schon!«
    Tatsächlich stand der Stallknecht bereits im verschneiten Klosterhof in der Nähe des großen Wassertores, die Hände unter die Achselhöhlen geschoben und frierend von einem Fuß auf den anderen tretend. Zu seinen abgewetzten und vielfach geflickten Beinkleidern trug er weder Wams noch Stiefel, sondern lediglich einen wollenen Überwurf und Holzschuhe. Der Grund für seine unzureichende Bekleidung war nicht schwer zu erraten. Seine einzigen warmen Sachen hatte er Eleonora überlassen. Trotzdem wirkte er nicht unzufrieden, denn vermutlich hatte sie ihm dafür mehr Geld

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