Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
zugesteckt, als er in einem ganzen Jahr zu sehen bekam. Ein Feixen stand auf seinem Mondgesicht, als Sanchia und Eleonora sich ihm näherten.
»Schau ihn dir an«, sagte Eleonora mit leisem Kichern. »Anscheinend gefällt es ihm, wenn Frauen seine Sachen anhaben.«
Niemand wusste genau, wie alt Moses war, er konnte ebenso gut dreißig wie vierzig sein. Er war kurz nach seiner Geburt als Findelkind nach San Lorenzo gekommen und bald darauf auf den Namen Cristoforo getauft worden. Dennoch nannte alle Welt ihn Moses, weil kein anderer Name besser zu ihm passte: Als die Nonnen ihn gefunden hatten, lag er nackt in einem stinkenden Fischkorb, den jemand mit einem Strick an die Beschläge des Haupttores gebunden hatte, damit die Ebbe ihn nicht wegziehen konnte.
Moses war nicht gerade besonders helle, doch er wies einen unbestreitbaren Vorteil auf: Er war ein Mann.
Damit war er für die Nonnen von unschätzbarem Wert. Nicht etwa, weil er erotische Anziehungskraft verströmte – es hieß, er sei den Tieren zugeneigter, als gutgeheißen werden konnte –, sondern weil die Frauen ohne männliche Begleitung das Kloster nicht verlassen sollten. Jedenfalls galt das für die jüngeren Nonnen, denen in diesem Punkt strengere Regeln auferlegt waren als den älteren Frauen oder den Converse, die nach ihrem Belieben frei kommen und gehen konnten.
Sogar für den kurzen Weg zum Spital musste Sanchia warten, bis Simons Laufbursche kam, um sie zu begleiten, wenn Moses gerade keine Zeit hatte. Annunziata, die seit dem Tod ihrer Schwester das Amt der Äbtissin innehatte, ließ die Nonnen weitgehend tun und lassen, was sie wollten, aber in diesem Punkt war sie eisern und bestand auf Einhaltung der Vorschriften.
»Irgendwann«, so hatte sie gesagt, »werden die Pfaffen uns das Ausgehen ohnehin ganz verbieten. Wahrscheinlich erleben wir es noch. Aber wir werden nichts tun, um sie schneller auf diesen Gedanken zu bringen als nötig.«
Moses war im Kloster der beliebteste Begleiter, ganz einfach deshalb, weil er immer greifbar war. Manche Mädchen hatten Vettern oder Brüder, die sich hin und wieder dazu herabließen, sie zu einer Ausfahrt durch den Canal Grande oder für einen Bummel über den Markt am Rialto abzuholen, doch das kam eher selten vor.
Außer Moses gab es nur noch zwei weitere Männer, die sich regelmäßig innerhalb der Klostermauern aufhielten. Da war einmal Pater Alvise, ein schmächtiges Männlein nahe den siebzig, der kaum noch genug Kraft besaß, während der Messe den Kelch zu heben, und ferner Girolamo, ein wuchtig gebauter, glatzköpfiger Koloss, der so groß war, dass er den Kopf einziehen musste, wenn er durch die Seitenpforte treten wollte. Er hatte im letzten Krieg als Söldner gekämpft und war bei der Rückeroberung von Otranto in türkische Gefangenschaft geraten. Über das, was dort mit ihm geschehen war, bewahrte er stets Stillschweigen. Er hatte noch nie darüber gesprochen. Nicht, weil er es nicht wollte – er konnte es nicht. Die Türken hatten ihm die Zunge herausgeschnitten. Dass sie ihn außerdem einer ganzen Reihe anderer unmenschlicher Martern unterzogen hatten, wusste Sanchia, seit er einmal im Spital eine offene Stelle an seinem Rücken von Simon hatte behandeln lassen. Sein Oberkörper musste nach dem Krieg eine einzige zerfleischte Masse gewesen sein. Er bestand fast nur aus wulstigen, roten Narben, die sich immer wieder entzündeten und nässten.
Dass er überhaupt noch lebte, verdankte er einem Zufall. Der Folterknecht des türkischen Flottenkommandanten hatte herausfinden wollen, wie lange ein Gefangener mit einem Speer im Leib überleben konnte. Drei Tage nach dem Beginn dieses sadistischen Experiments fand die Entscheidungsschlacht statt, und Girolamo sowie andere überlebende Mitgefangene wurden von ihren Landsleuten befreit. Damals nach der Plünderung des Klosters hatte Annunziata ihn als Torhüter und Beschützer eingestellt, eine Aufgabe, der er mit nie nachlassender Wachsamkeit nachkam.
Stumm wie immer stand er an der Pforte und öffnete die Seitentür, um die Mädchen und den Stallknecht hinauszulassen.
»He, Girolamo, pass auf!«, rief Eleonora ihm lachend zu. Sie bückte sich und klaubte Schnee zusammen, um einen Ball daraus zu formen. Spielerisch warf sie damit nach dem Torwächter, der das eisige Geschoss mit einer blitzartigen Bewegung seiner Hand mitten im Flug auffing und zurückschleuderte. Er lachte lautlos, als Eleonora sich kreischend duckte. Moses lachte
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