Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
ebenfalls, ein glucksendes, albern klingendes Geräusch, das Ähnlichkeit mit dem Gemecker der Ziegen hatte, die er betreute.
Nichtsdestotrotz war es ansteckend. Sanchia stimmte kichernd in die allgemeine Heiterkeit ein, während sie hinter Moses und Eleonora das Klostergelände verließ. Girolamo zwinkerte ihr gut gelaunt zu, und sie lachte ihn an, froh darüber, dass sie entschieden hatte, der Schreibstube für heute den Rücken zu kehren und den Schnee zu betrachten. Es war das erste Mal, dass sie welchen sah. Draußen vor dem Tor blieb sie auf der Fondamenta stehen und nahm eine Hand voll von der weichen, kalten Masse auf. Sie betrachtete sie aus der Nähe und erkannte überrascht die kristalline Ausbildung. Mit offenen Händen fing sie herumtreibende Flocken ein, um sie genauer zu untersuchen, bevor sie schmelzen konnten. Es waren keine kleinen Kristalle wie bei Salz oder Zucker, sondern deutlich sichtbare Gefüge, mit filigranen Verästelungen in ·einer vielarmigen, aber symmetrischen Struktur. Die Gegensätzlichkeit des Phänomens faszinierte sie, denn der Unterschied zwischen dem herumwirbelndem Chaos des wild durch die Luft tanzenden Schnees und der geordneten Geometrie im Detail hätte nicht größer sein können. Aufgeregt wollte sie weiteren Schnee einfangen, doch Eleonora hatte andere Pläne.
Jauchzend stieg sie von der Fondamenta in den Kanal, und Sanchia ließ entsetzt die Schneebrocken fallen.
Eleonora versank nicht im Wasser, sondern blieb darauf stehen, und für einen Moment schien es Sanchia, als sei ein biblisches Wunder geschehen. Dann stieg Moses ebenfalls von der Fondamenta herunter, und Sanchia begriff, dass das Wasser fest geworden war. Sie hatte darüber gelesen, doch nie hatte sie gedacht, es einmal in der Wirklichkeit zu erleben.
»Eis«, rief sie entzückt aus. »Das Wasser ist zu Eis gefroren!«
»Ja, was glaubst du denn, warum ich dich von deinen öden Büchern weggeholt habe, du Dummchen! Du wirst nächste Woche fünfzehn Jahre alt, aber du vertust die meiste Zeit deines Lebens mit Dingen, die keinen Spaß machen!« Eleonora lachte ausgelassen, riss sich die Mütze vom Kopf und schwenkte sie hin und her, während sie begann, auf dem Eis Drehungen zu vollführen. Einen Augenblick später glitt sie aus und plumpste auf ihr Hinterteil, was indessen ihre Laune nicht zu trüben vermochte. Im Gegenteil, sie lachte nur noch lauter, während sie sich hochrappelte und an Moses festhielt, der es sich gutmütig gefallen ließ.
Sanchia zögerte nicht, sich ebenfalls von der Fondamenta auf die gefrorene Wasseroberfläche herunterzulassen. Kälte stieg unter ihren Füßen auf und strich um ihre Beine. Sie ging in die Hocke, um das Eis anzuschauen, doch Eleonora drängte sie, sich zu beeilen. Sie wollte nicht den Spaß mit den anderen verpassen. Es war ein seltenes Ereignis im Leben der Nonnen, mit jungen Männern zusammenzutreffen. Elisabettas Bruder Enrico, der hin und wieder ins Kloster kam, um seine Schwester zu besuchen, war ein gut aussehender, schneidiger Draufgänger, und nach allem, was man hörte, galt dasselbe für seine Freunde, lauter Bravi di Calze, die mit ihrem herausfordernden Gehabe nicht nur während des Karnevals die Gassen und Kanäle der Stadt unsicher machten. Natürlich waren sie auf Liebschaften mit den jungen Nonnen aus, wenn sie sich in der Nähe des Klosters herumtrieben. Viele Nonnenklöster genossen über die Grenzen Venedigs hinaus den zweifelhaften Ruf, Bordelle für die Herren der besseren Gesellschaft zu sein. San Lorenzo gehörte nicht dazu, obwohl es nicht selten dennoch zu einer verbotenen Liaison kam. Annunziata duldete es meist kommentarlos. Schließlich hatte sie, wie jeder wusste, seit Jahren selbst einen Liebhaber, der sie regelmäßig im Kloster besuchte. Trotzdem achtete sie bei den jüngeren Nonnen darauf, dass die amourösen Begegnungen nicht überhand nahmen, immer mit der Begründung, dass ein solches Benehmen auf lange Sicht die erzürnten Blicke des Klerus auf sich ziehen und damit ihre mühsam verteidigten Freiheiten gefährden würde.
Halb schlitternd, halb tapsend folgte Sanchia ihrer Freundin und dem Stallknecht dem Lauf der Kanäle entlang in Richtung Basilika. Es war ungewohnt, die Strecke, die sie sonst immer im Wasser zurücklegten, zu Fuß zu gehen.
Die Gondeln lagen wie festgezaubert in ihrem Eisbett vor den Palazzi, und die Marmorsäulen an den Arkaden waren mit einem frostigen Überzug versehen, als hätte sie jemand in Zucker
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