Die Mächte des Feuers
versenkte sich in ein Buch und schaute verstohlen doch immer wieder zu Grigorij. Sah so ein netter Mann aus?
Gegen vier Uhr morgens fielen Silena die Augen zu, und selbst die Menge Kaffee half nichts dagegen.
Grigorij dagegen war ein Bündel an Ausdauer. Er selbst schob es auf die Wirkung seines besonderen russischen Tabaks, der abscheulich stank und mit irgendetwas parfümiert worden war. Sie wollte gar nicht wissen, womit, aber die winzigen Pupillen sprachen Bände.
Silena gähnte und rieb sich die Augen, legte die Handschrift zur Seite und nahm die nächste. Es war wieder etwas Neuzeitliches, ein Pergament, das ein Forscher vor ihr gelesen und auf das Jahr 1520 datiert hatte, wie eine Notiz darin verriet. Ein Blick genügte, und sie fühlte sich wach. In der Buchmalerei, links oben auf dem Pergament, war das Dach der Kathedrale Mont-Saint-Michel dargestellt, und daran erkannte sie Cyrano, den geflügelten Gargoyle, dem sie in München und in Avranches begegnet waren.
»Fürst, kommen Sie bitte zu mir.« Grigorij erhob sich und eilte herbei, und Silena zeigte ihren Fund. »Was halten Sie davon?«
Er verstand sofort, was sie meinte. »Ist es unser Gargoyle oder irgendeiner, der da als Schmuck dient?«
»Das finden wir nur heraus, wenn wir die Insel und die Kathedrale besuchen.«
»Warten Sie! Mir ist da…« Er eilte an seinen Platz zurück, wo er inzwischen an der achten Handschrift saß und verschiedene Lupen und Notizzettel um sich herum ausgebreitet hatte. Das Glas mit der stärksten Vergrößerung über das Pergament haltend, winkte er ihr aufgeregt zu. »Da! Oh, ich Idiot! Da, schauen Sie!«
Silena erhob sich mit bleiernen Beinen und wünschte sich ein Bett, in das sie fallen durfte. Oder dass sie noch einmal die Wolken unter ihren Füßen spüren durfte. Doch sie ahnte, dass sie sich diesen Luxus vorerst nicht leisten durfte. Sie beugte sich über ihn, er sprang auf und zwang sie auf seinen Stuhl, dann stellte er sich hinter sie.
»Schauen Sie auf die Zeichnung!«, sagte er überschwänglich.
Silena tat es. Das Pergament stammte aus den frühen Jahren des Mont-Saint-Michel; die Bemerkungen eines Gelehrten gingen davon aus, dass es sich sogar um eine Handschrift des Bischofs handelte. Der Berg lag recht unscheinbar umgeben von Wasser, eine kleine Kirche erhob sich, die mehr den Eindruck einer Hütte machte. Darüber kreiste ein Vogelschwarm. »Ich sehe nichts, Fürst. Sie sollten weniger…«
»Die Vögel, Großmeisterin!« Er legte die Rechte auf ihren Rücken und drückte sie tief nach unten, sodass ihre Nase beinahe das Pergament berührte. »Schauen Sie sich die Vögel an.«
Die Wunde versetzte ihr einen kleinen Stich; sie konzentrierte sich, die Augen gehorchten ihr mit etwas Verzögerung und enthüllten, weswegen der Russe so aufgeregt war. »Es sind Gargoyles!« Sie schaute noch genauer und konnte deutliche Unterschiede im Körperbau der Wesen ausmachen. »Sie kreisen um den Berg.«
»Sie hatten Recht, Großmeisterin. Wenn wir das Rätsel lösen wollen, müssen wir auf die Insel.« Er sah ihr an, dass sie dringend Schlaf benötigte. »Halten Sie durch, oder sollen wir…«
»Nein. Wir können uns keine Verzögerung erlauben.« Silena stemmte sich in die Höhe. »Eine Tasse Kaffee…«
Plötzlich hielt ihr Grigorij ein Döschen hin. »Das macht Sie schneller munter als Kaffee. Möchten Sie es versuchen?«
»Besser nicht, Fürst. Es ist mir zu gefährlich.« Sie eilte zum Ausgang, er folgte ihr. Vor der Tür auf einem Stuhl saß der schlafende Patron, einen leeren Becher in der Hand haltend. »Monsieur, wir müssen auf der Stelle übersetzen.«
Er schreckte aus seinem Schlummer. »Was?«
»Wir, mein französischer Freund, müssen auf den Mont. Jetzt«, wiederholte Grigorij lachend und zerrte ihn auf die Beine. »Kommen Sie. Sie bringen uns an die Küste. Es gibt keine Zeit zu verlieren.«
»Ja, ja, ich komme schon.« Patron brauchte eine Weile, bis er seine Schlaftrunkenheit abgeschüttelt hatte. Er sperrte das Rathaus ab und lief mit ihnen zu einem Haus, wo ihnen nach kurzem Klopfen die Tür von Farou geöffnet wurde.
»Ja? Fündig geworden?« Seinem Aussehen nach hatte er nicht geschlafen; er trug noch immer seine Kleider, als habe er damit gerechnet, geweckt zu werden.
»Sie wollen auf den Mont«, erklärte Patron.
»Gut, ich fahre sie.« Er griff hinter sich und hielt einen Mantel sowie eine Mütze in der Hand. Schon verließ er das Haus und ging auf seine Scheune zu, die etwas
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