Die Mächte des Feuers
also einen Erzengel dazu bringen, alle fünfzehn Minuten zu rufen.«
»Es ist die Glocke, die angeblich schon zu Auberts Zeiten hier aufgestellt wurde. Sie wurde niemals angetastet, nicht einmal von den Revolutionstruppen.« Farou klopfte gegen die Tür, und schließlich öffnete sie sich.
Zu sehen war eine ältere Frau, die einen Regenmantel und Hausschuhe trug, die langen schwarzen Haare steckten unter einem Netz. »Bürgermeister?« Sie betrachtete die Fremden. »Was soll das?«
»Bonjour, Jaqueline. Schön, dass du schon auf den Beinen bist.« Farou lächelte. »Wir müssen in die Kathedrale. Hol mir den Schlüssel.«
Die Frau starrte ihn an, als sei er geisteskrank. »Bürgermeister, du kommst mitten in der Nacht, um den beiden hier Saint-Michel zu zeigen? Seid ihr alle betrunken, oder was ist in euch gefahren?«
»Keine Zeit. Besorg mir den Schlüssel.« Er drängte sie einfach zur Seite und nahm ihr die Taschenlampe ab. »Wir gehen schon mal nach oben. Und beeile dich, es ist wichtig.«
»Der alte Rondon hat Glockendienst. Er wird euch aufmachen.«
»Du weißt, dass er fast taub ist. Ich habe keine Lust, im Freien zu stehen.« Er sandte Jaqueline einen Blick zu. »Mach schon. Es ist wichtig.«
Brummelnd verschwand sie in ein Haus unmittelbar neben dem Tor, während sich Farou anschickte, zusammen mit seinen Begleitern den Berg durch die engen Sträßchen des Fischerdorfs zu erklimmen.
Es war kein leichter Aufstieg.
Die Gasse wand sich und war steil. Grigorij keuchte und schnaufte, und auch Farou hatte sichtliche Mühe, den schnellen Schritt der Drachentöterin beizubehalten. Um ihnen eine Pause zu gönnen, blieb sie stehen und sah hinüber zum Festland, über die Dörfer, in deren Häusern die Bewohner nach und nach erwachten und sich dem Tagwerk widmeten. Es sah wunderschön aus. Wie musste die Aussicht erst im Sonnenschein wirken?
Endlich hatten sie den Eingang zum Kloster erreicht. Farou führte sie durch einen Kreuzgang, in dessen Mitte ein bezaubernder Garten lag und dessen Sommerschönheit man nur erahnen konnte. Durch einen Seitengang ging es in die beleuchtete Kathedrale, und sowohl Silena als auch Grigorij blieben die Münder vor Staunen offen stehen.
Niemals hätten sie es für möglich gehalten, ein so imposantes, großartiges Gebäude auf der Spitze eines kargen Granitfelsens zu finden. Die Räume waren gigantisch hoch; die Haupt- und Seitenschiffe standen jedem Kirchenbau auf dem Festland in nichts nach und schraubten sich bogen- und pfeilergestützt in die Höhe. Die Schmucklosigkeit unterstrich die Einzigartigkeit der Architektur. Lediglich im Hauptteil, dort, wo sich einst der Altar befunden hatte, hatte jemand ein großes Kreuz aufgestellt.
Wieder schlug die große Glocke. Der Klang im Innern der Kathedrale war noch überwältigender und gab den dreien das Gefühl, selbst in Schwingung zu geraten, als ob die Knochen und Organe in den Körpern sängen.
»Da hinüber, zum Aufgang«, wies Farou sie an.
»Oh, nicht noch eine Treppe«, stöhnte Grigorij.
»Es wird sich nicht vermeiden lassen, wenn wir auf das Dach möchten, Fürst«, merkte Silena an. Sie sah die Schweißtropfen auf seiner Stirn, er atmete noch immer schnell wie nach einem langen, anstrengenden Dauerlauf. Wieder spürte sie das Kribbeln, das mit seinem Anblick einherging. »Sie sollten weniger trinken und die Drogen weglassen«, sagte sie schroff, um ihre Gefühle zu verbergen. Sie wollte sich nicht in diesen Mann verliebt haben.
»Nein. Dann habe ich auf dieser Insel ja gar keinen Spaß mehr. Ansonsten gibt es hier nur alte Weiber und Glocken.« Grigorij hielt bereits eine Zigarette in der Hand. »Gehen wir und schauen, wie hoch ein Kathedralenturm sein kann.«
»Ich warte hier unten, wenn es recht ist. Der alte Rondon muss wissen, dass Sie hier sind, oder er stirbt mir vor Schreck. Überraschungen ist er nicht mehr gewohnt.« Farou sperrte ihnen die Tür auf. »Viel Erfolg.«
Silena ging vorneweg und stellte den Fuß auf die erste Stufe. Im selben Augenblick schoss ein Blitz am Fenster vorbei, und ein lautes Krachen ertönte. Kurz darauf setzte das Prasseln von Regen ein. Das Unwetter war von seinem Ausflug an Land zurückgekehrt.
24. Januar 1925, Marazion (Cornwall), Königreich England
Arsenie ging auf die Jagd.
Dafür trug sie ein knöchellanges weißes Kleid, darüber eine schwarze Bluse, die einen tiefen Ausschnitt besaß, und dazu die doppelte Perlenkette, um ihren Hals und das Dekolleté zu
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