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Die Mächte des Feuers

Die Mächte des Feuers

Titel: Die Mächte des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Brüder…
    Schließlich setzte sie sich in ihrem Feldbett auf, stellte die Füße auf den Holzdielenboden. Sie trug einen dunkelblauen Männerschlafanzug, weil sie Nachthemden nicht mochte. Andere Drachentöter hätten das Zelt und die karge Liege als unter ihrem Stand abgelehnt, aber ihr machte es nichts aus. Sie betrachtete sich dank ihrer Abstammung als etwas Besonderes, ja, aber nicht als Übermensch und nicht als Heldin. Sie tat ihre Pflicht wie viele aus ihrer Familie vor ihr.
    Ihre Linke hielt den Talisman umfasst, der an einer Kette um ihren Hals hing: ein Splitter von dem Speer ihres Vorfahren, des heiligen Georg, Drachentöter und Stadtbefreier; sobald sie sich einem Drachen auf fünfzig Meter näherte, glomm der Eisenspan auf und warnte sie.
    Sie fuhr über den Splitter und war in Gedanken bei Demetrius und Theodor, bei ihrem sinnlosen Tod, den ein Unbekannter heimtückisch herbeigeführt hatte. Sie hatte einen kleinen Drachen im Verdacht.
    Die Augen wanderten zum Grammophon. Silena stand auf, kurbelte es an und ließ die Yale Whiffenpoofs erklingen. Sie hatte die amerikanische A-capella-Gruppe vor zehn Jahren das erste Mal bei einem Konzert gehört und war von der Wirkung der Stimmen und den Melodien fasziniert gewesen. Die Whiffenpoofs bestachen durch exzellente Einzigartigkeit. Wahre Goldkehlen. Niemand vermochte es, derartig beruhigende und abwechslungsreiche Klangteppiche zu weben, auf denen sich die Seele ausruhen durfte.
    Nach den ersten Tönen entlud sich Silenas Trauer und zerstörte die raue Schale, die sie in der Öffentlichkeit trug.
    Weinend stand sie vor dem Schalltrichter, kehrte ins Bett zurück und kauerte sich zusammen. Endlich musste sie keinen der Männer mehr beeindrucken, weder Freunde noch Gegner, jetzt durfte sie Schwäche zeigen.
    Es tat gut, hemmungslos zu weinen. Der angestaute Schmerz wurde hinausgeschwemmt und erträglicher. Bis zum Morgen würden die Augen auch nicht mehr gerötet sein, es gab keine verräterischen Spuren von zu vielen Empfindungen.
    Das letzte Mal hatte sie so getrauert, als ihre Eltern vor ihren Augen von einem Drachen ermordet worden waren.
    Der Erfolg hatte Athanasius und Silene den frühen Tod gebracht. Sie waren in einen Hinterhalt gelockt und von scharfen Klauen zerfetzt worden, als sie…
    Zu viele schlechte Erinnerungen suchten sie heim. Silena nahm das Laken, um die salzigen Tropfen zu trocknen, und betrachtete die Autogrammkarte, die neben ihrem Feldbett stand. Die Aufnahme zeigte den Regisseur und Schauspieler Harry Piel, den sie seit seinem ersten Film bewunderte – nicht, weil er gut aussah, sondern weil er Abenteuer bestand, waghalsige Szenen selbst ausführte und beinahe sogar Kunstflieger geworden wäre. Sie fühlte eine Verbundenheit zu ihm.
    »Manchmal wäre es schön, wenn das Leben mehr von einem Film hätte«, sagte sie leise und schloss die Augen. »Ich könnte den Tod von Trius und Theo einfach herausschneiden und eine neue Szene mit ihnen drehen. Als hätte der Absturz niemals stattgefunden.«
    Die Whiffenpoofs hatten aufgehört zu singen; zu den Tropfgeräuschen gesellte sich das leise Rauschen, als die Nadel am Ende der Platte angekommen war und keine Töne mehr fand.
    Sie wurde müder, gähnte und zog die Decke über sich.
    »Ich werde nicht aufgeben, bis ich euch gerächt habe«, schwor sie ihren Brüdern flüsternd und küsste ihren Talisman. »Der Schuldige wird sterben.« Sie schloss die Augen und hoffte auf einen Traum.

II.
    Die Linie Longinus
     
    Ausgehend vom römischen Legionär, der Jesus am Kreuz die Lanze in die Seite stieß, haben sich die Nachfahren vor allem auf den Nahkampf mit dem Spieß spezialisiert. Manche behaupten, diese Lanze sei noch immer im Besitz der Linie, komme bei b e sonders großen Drachenexemplaren zum Einsatz und richte ve r heerenden Schaden an.
    Das Officium äußert sich dazu nicht.
     
    aus der Serie ›Drachentöterinnen und Drachentöter im Verlauf der Jahrhunderte‹
     
    Im ›Münchner Tagesherold‹, Königlich-Bayerisches Hofblatt vom 1. Juni 1924

1. Januar 1925, Korumdie-Gebiet, Zarenreich Russland, Grenze zu China
     
    Von den Lüstern und Leuchtern an der Decke der Eingangshalle waren nur noch angebrannte, versengte Reste übrig. Das Blattgold war geschmolzen und hing als erstarrte Tröpfchen an den Wänden. Die Birnen waren größtenteils erloschen oder geplatzt. Die kleinen, zuckenden Flämmchen, die auf der Einrichtung tanzten, verbreiteten flackerndes Licht und machten das

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