Die Mächte des Feuers
Sie war einfach stehen geblieben, kein Schubsen und Schieben hatte sie aus der Bahn geworfen. Sogar die folgende Prügelei hatte sie gewonnen… Silena musste grinsen, als sie sich daran erinnerte.
Nach einer halben Stunde verließ sie die Wanne, wohl duftend und sauber. Silena zog sich frische Kleidung an und begab sich nach unten, ins Restaurant des Palais; es war leider gut besucht.
»Grüß Gott, Großmeisterin«, wurde sie am Eingang vom Mâitre empfangen. Wie alle Bediensteten trug er einen schwarzen Anzug mit langen Schößen und darunter ein weißes Hemd, was seiner Zunft den Spitznamen Pinguine eingebracht hatte. »Den Tisch am Fenster, ist das genehm?«
Die Köpfe der elegant gekleideten Gäste wandten sich ihr zu, es wurde geflüstert und geraunt. Die Zeitungen hatten ausführlich über den unerklärlichen Absturz von Theodor und Demetrius berichtet, und man erkannte sie, die tapfere Drachentöterin, die ohne Familie und mit einer schweren Bürde da stand.
Sofort war die gute Stimmung, die ihr das Bad bereitet hatte, verflogen. Es würde ihr dabei helfen, unerschütterlicher und härter zu erscheinen.
»Sehr gern, Alois.« Sie ließ sich aus dem Ledermantel helfen und folgte dem Mâitre durch den Saal in die linke Ecke, wo sie sich mit dem Rücken zur Wand niederließ. Den Säbel schnallte sie ab und legte ihn auf den Stuhl neben sich, die Pistole blieb unterhalb der Achsel; sofort eilten drei Kellner herbei und richteten den Tisch, brachten Wasser und Wein sowie die Karte. »Was können Sie empfehlen, Alois?«
»Terrine vom Bauernhähnchen mit Gänseleber in Thymianwürze, dazu indisches Chutney von Gartenfrüchten, danach Saute vom Rinderfilet mit Morcheln á la creme und Kartoffelgestampf. Als Nachtisch vielleicht etwas Leichtes, wie einen Obstsalat mit parfümiertem Eis, Großmeisterin?«
»Sehr gern.« Silena zeigte auf den Wein. »Den können Sie gleich wieder abräumen, Alois.«
Der für den Fauxpas verantwortliche Kellner erhielt einen strafenden Blick vom Mâitre. »Sicher, Großmeisterin. Verzeihen Sie, das neue Personal hat sich Ihre Gewohnheiten noch nicht eingeprägt, aber das werde ich in der Küche mit Hilfe eines Fleischhammers umgehend nachholen«, lächelte er sie an, verbeugte sich und zog sich zurück. Auch die anderen Kellner verschwanden wie verscheuchte Fliegen. Silena wusste, dass sich Martha gerne hier aufgehalten und den Wein nicht verschmäht hatte. Sie fragte sich, ob sie zu Ehren der ermordeten Drachentöterin nicht eine Ausnahme machen und ein Glas auf sie trinken sollte. Nach kurzem Zögern blieb sie beim eingeschenkten Wasser und betrachtete die Männer und Frauen in den edlen Roben um sich herum.
Ohne dass sie den Grund dafür benennen konnte, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Sie fühlte sich beobachtet und wollte herausfinden, von wem. Ihr Blick schweifte suchend über die Gäste.
Einige Frauen bevorzugten den konservativen Stil, zugeknöpft und hochgeschlossen, viel Geschmeide an den Ohrläppchen und um den Hals, die Männer in schwarzen Anzügen oder in Uniformen. Aber sie entdeckte auch Damen in kurzen Charlestonkleidern, ganz aufreizende Freizügigkeit, garniert mit langen Zigarettenspitzen, an denen lasziv gesogen wurde, während die Begleiter sich oftmals sportlich gaben und weiße Hosen, gestreifte Hemden und leichte Sakkos trugen. Der vornehme Prunk und die eherne Moral der Kaiserzeit trafen auf die grassierende Moderne, die sich in der Musik und vor allem dem Verhalten niederschlugen.
Silena bemerkte einen Plakatläufer vor dem Fenster, der Tafeln auf Brust und Rücken trug, die zum Charleston-Abend in einen Club einluden.
Kein Tanz für sie, und sie hätte auch niemals vermutet, dass er in wenigen Jahren derart in Mode geraten würde, aber sie mochte die lebhaften, mitreißenden Lieder und die Stimmung, die dabei entstand. Vielleicht sollte sie den Club besuchen, um auf andere Gedanken zu kommen – auch wenn es der Erzbischof besser nicht erfuhr.
Irgendwo stießen Menschen miteinander an, Kristallgläser klirrten. Da kam ihr der Gedanke: Wenn das Versehen mit dem Wein mehr bedeutete? Alois hatte neues Personal erwähnt. Es wäre der perfekte Ansatz für einen Drachenfreund, sich einem Mitglied des Officiums unverdächtig zu nähern und ihn dann anzugreifen.
Als Silena den Kopf drehte, um nach Alois zu suchen, stand wie aus dem Nichts ein junger Mann mit Dreitagebart und langen Koteletten vor ihrem Tisch, den sie zehn Jahre jünger als sich selbst
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