Die Mächte des Feuers
Rücken zu spüren.
»Keine Frage. Aber er hat eine seltsame Art, uns zu zeigen, dass er weiß, wo wir sind«, meinte sie nachdenklich und schaute in das Gesicht der Toten. Sie war Mitte sechzig, und ihrem Gesicht hatte der Schrecken des Erlebten eine Maske angelegt. »Ich verstehe die Tat nicht. Im Grunde hätte er uns ebenso leicht angreifen und vernichten können. Weswegen verzichtete er darauf?«
»Um uns die Tote anzulasten?«
Silena verzog die Mundwinkel. »Ein törichter Gedanke, nicht wahr? Sie liegt auf unserem Dach, nicht auf unserem Kühler, demnach wird man leicht erkennen, dass wir sie unmöglich überfahren haben.« Sie überprüfte die beringten Finger der Frau, suchte nach Hinweisen, weswegen sie den Tod verdient haben könnte, und fand nichts. Absonderlich waren die Kleider, welche die Tote trug. Der Drache musste sie unmittelbar aus dem Bett gezerrt haben – oder hatte sie am Fenster gestanden und frische Luft in ihr Zimmer gelassen? Jedenfalls ging man nicht in Morgenmantel und Nachthemd auf die Straße, um sich von einem Fünfender rauben und aufschlitzen zu lassen. Silena vermutete, dass mehr hinter dem Mord steckte.
»Auf alle Fälle müssen wir die Polizei holen. Sie bleiben beim Wagen, ich gehe zum Haus von Gisborn. Es ist ja nicht mehr weit, sagten Sie vorhin.«
Der Fahrer rührte sich nicht von der Stelle, nickte und rief laut nach den Bobbies, während sich die Drachentöterin durch den Nebel auf den Weg begab. Sie fürchtete seltsamerweise nicht, angegriffen zu werden, der Lanzensplitter ihres Amuletts glühte nicht. Das Monstrum betrieb irgendein Spiel, dessen Sinn sich ihr nicht erschloss. Es hatte sein Gelege zurück, also was, bei allen Heiligen, wollte es noch in London?
Das Anwesen von Gisborn schälte sich aus dem Nebel, ein Herrenhaus, eingekeilt zwischen anderen Häusern in der Mince Lane, mit verschnörkelter Eingangstür und einer roten Backsteinfassade, Fensterbänken aus solidem schwarzem Marmor und weißen Fensterläden.
Silena humpelte die Stufen hinauf, betätigte den Türklopfer und wartete. Auf dem polierten Silberschild neben der Tür stand Frederic Gisborn, Seancier und Schüler des berühmten Daniel Dunglas H o me.
Sie atmete tief ein. Jetzt glaubte sie nicht mehr an die Verstrickung von Zufällen. Zuerst dieser Zadornov, dann der Selbstmord eines Spiritisten in München, jetzt die Spur der Dracheneier zum nächsten Medium. Es klang allmählich nach einer Verschwörung.
»Wir hätten Jagd auf sie statt auf die Drachen machen sollen«, brummte Silena vor sich hin und betätigte den Klopfer erneut. Das Officium würde ihren Bericht mit großem Interesse lesen und vielleicht wirklich eine Unterabteilung bilden, um diese Personen im Auge zu behalten. Oder der Inquisition einen Wink geben, schärfer gegen die modernen Hexen und Hexer vorzugehen.
Unvermittelt öffnete sich die Tür, ein unrasiertes Männergesicht mit einem buschigen braunen Backenbart lugte verschlafen aus dem Spalt hervor. »Sind Sie verrückt?«
»Mister Benson?«
»Wer will das wissen?« Er rieb sich die Augen, kniff sie zusammen und schob sich eine Brille auf die Nase. »Sie sind eine Drachentöterin?«
»Ich bin Großmeisterin Silena und wegen Ihres verstorbenen Arbeitgebers hier, Sir. Kann ich drinnen mit Ihnen sprechen?«
»Um diese Uhrzeit?«, entrüstete er sich.
»Es ging nicht anders. Ich musste zuerst noch den Angriff eines Drachen über mich ergehen lassen«, erwiderte sie spitz. »Ich möchte herausfinden, ob Mister Gisborn ein Drachengelege bezogen hatte und was er damit bezweckte.« Sie legte eine Hand gegen die Tür und schob sie mit sanfter Gewalt auf. »Ich kann die Bobbies rufen, wenn Sie sich weigern, mir bei meinen Ermittlungen zu helfen, Sir. Wir können unsere Unterhaltung auf der nächsten Wache fortführen, doch ich denke, dass es nicht nötig sein wird, oder?«
Benson seufzte und gewährte ihr Eintritt. »Folgen Sie mir in den Salon, Großmeisterin. Ich werde berichten, was ich weiß, auch wenn ich an der Geschichte mit den Dracheneiern zweifle.« Er führte sie durch ein stockdunkles Haus, und während Silena an Möbelstücken und Türrahmen hängen blieb, bewegte er sich mit traumwandlerischer Sicherheit vorwärts. Er hatte die Anstellung bei Gisborn sicherlich schon lange inne.
Im Salon entzündete er Gaslichter, bot ihr einen großen Ohrensessel und einen Sherry an. Den Alkohol lehnte sie ab und setzte sich, während er sich ein Glas einschenkte.
»Man
Weitere Kostenlose Bücher