Die Maechtigen
Wenn Präsident Wallace morgen ins Archiv kommt und in den SCIF geht, werden Sie derjenige sein, der sich um ihn kümmert.«
55. Kapitel
Es waren nur sechs Sekunden.
Sechs Sekunden Video.
Sechs Sekunden YouTube.
Aber für Clementine, die immer noch auf ihrem Futon lag, sich Hilfe suchend an ihre Katze klammerte und mit müden Augen auf den Bildschirm des Laptops starrte, waren es die wichtigsten sechs Sekunden des ganzen Films.
Sie wusste genau, wohin sie mit der Maus klicken musste, damit der kleine graue Kreis wieder zurück auf Minute 1: 05 des Videos sprang. Bei 1: 02 hob Nico zum ersten Mal die Waffe, man sah es tatsächlich, bevor man ihn selbst sah. Bei 1: 03 trat er einen halben Schritt aus der Gruppe der NASCAR-Fahrer heraus. Man konnte gerade den Arm seines Overalls erkennen, weil die grelle Sonne von einem großen gelben Flecken reflektiert wurde. Bei 1: 04 war der ganze Overall zu sehen. Er bewegte sich. Aber erst bei 1: 05 hatte man einen deutlichen Blick auf Nicos Gesicht.
Und dieser Blick hielt sechs Sekunden an.
Sechs Sekunden, in denen Nicos Gesicht direkt in die Kamera gerichtet war.
Sechs Sekunden, in denen Nico ganz ruhig war, sogar lächelte.
Sechs ruhige Sekunden vor den Schüssen und dem Geschrei und dem Chaos, sechs Sekunden, in denen Clementines Vater nicht wie ein Monster aussah. Er sah zuversichtlich aus. Entspannt. Er sah sogar glücklich aus. Und noch etwas war ohne Frage klar, selbst sie konnte es sehen, als er seine Lippen in diesem Lächeln öffnete: Sie hatten den gleichen Gesichtsausdruck. Das war Beechers einzige Lüge. Aber sie kannte die Wahrheit. Sie sah genauso aus wie ihr Vater.
Pop, pop, pop. In Minute 1: 12 gingen die Schüsse los.
Bis dahin hatte Clementine jedoch längst die Maustaste gedrückt und den kleinen grauen Kreis auf dem Verlaufsbalken auf die Szene vor dem Chaos zurückgezogen.
Sie machte das jetzt schon eine ganze Weile; dieselben sechs Sekunden liefen immer wieder von vorne. Das konnte nicht gesund sein.
Um auf andere Gedanken zu kommen, griff sie nach ihrem Telefon. Sie würde Beecher anrufen. Auch wenn es eine lange Heimfahrt war, sollte er mittlerweile zu Hause angekommen sein. Sie hielt den Hörer ans Ohr und ließ es ein paar Mal klingeln. Dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie wählte noch einmal. Wieder der Anrufbeantworter.
Sie maß dem keine große Bedeutung bei. Obwohl sie viel öfter an den Kuss dachte, als ihr bewusst war.
Ihr war immer schon klar gewesen, dass Beecher es draufhatte.
Und sie lernte auch, dass Beecher voller Überraschungen steckte.
Wahrscheinlich schläft er schon, dachte sie, als sie wieder mit der Maus klickte und das Video von vorne begann. Sie sah es sich noch einmal an, nur um sich zu bestätigen, wie sehr sie sich doch von ihrem Vater unterschied.
»Schon gut … ich verspreche es«, sagte sie zu ihrem Kater. »Das ist jetzt wirklich das letzte Mal.«
56. Kapitel
»Sie sollten sich das Eis gegen das Kinn drücken«, rät mir Dallas.
»Ich brauche kein Eis«, sage ich, obwohl das nicht stimmt. Mein Kinn brennt wie Feuer. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was mir noch bevorsteht. Ich öffne behutsam einen Spalt in dem Vorhang und betrachte einen Obdachlosen, der kein Obdachloser ist, der vor einem Wohnhaus sitzt, das nicht wirklich ein Wohnhaus ist, und vermeide es, meinen Bürokollegen anzusehen, der, wie ich jetzt weiß, weit mehr ist als nur ein Bürokollege.
»Beecher, es ist gut, dass Wallace ausgerechnet Sie angefordert hat.«
»Ja, das ist vollkommen logisch, sicher. Es liegt selbstverständlich vollkommen auf der Hand, warum man mich mit dem mächtigsten Mann der Welt in eine abgeschlossene, schusssichere Kammer stecken will, ohne Zeugen und ohne irgendeinen Schutz. Das ist wirklich eine prima Idee.«
»Wir vermuten, dass er Ihnen ein Angebot machen wird«, meint Dallas schließlich.
»Wer? Der Präsident?«
»Warum sollte er sonst nach Ihnen fragen, Beecher? Sie haben etwas, das für ihn bestimmt war. Trotz Orlandos Tod und obwohl sowohl FBI und Secret Service in dem Raum herumschnüffeln, kehrt Wallace zum Tatort zurück und möchte ausdrücklich Sie dabeihaben. Ganz allein. In seinem SCIF. Wenn wir Glück haben, wird er plaudern, sobald die Tür hinter ihnen zugeschlagen ist und die magnetischen Schlösser eingeschnappt sind.«
»Sicher. Oder aber mir passiert genau dasselbe wie Orlando.«
Dallas schüttelt den Kopf. »Bleiben Sie realistisch. Präsidenten machen
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