Die Maechtigen
»Wie lange liegt er schon hier?«
»Darüber dürfen wir keine Auskunft geben.«
»Wie lange ist er schon hier …?« Ich schreie.
Die Krankenschwester tritt nach meinem Ausbruch einen Schritt zurück. Schwarze Acht reagiert nicht. Seine Fledermausaugen blinzeln kaum.
»Zehn Jahre«, erwidert die Pflegerin kühl. »Und jetzt muss ich Sie bitten, das Zimmer zu verlassen. Wenn Sie mit Nico sprechen wollen …«
Nico. Den hätte ich fast vergessen. Nico ist unterwegs hierher.
»Ich habe es mir anders überlegt. Ich brauche ihn nicht mehr zu sehen«, antworte ich, stürme an der Pflegerin vorbei und renne zur Lobby. »Sagen Sie ihm nicht, dass ich hier war. Das regt ihn nur auf!« Ich meine es ernst, sehr ernst.
Ich reiße die Metalltür auf und stürme in die kühle Lobby. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, ich muss kombinieren. Wenn Schwarze Acht sich hier befindet, dann … Nein. Das darf ich gar nicht denken. Jedenfalls nicht, bis ich ganz sicher bin.
»Na, das ging ja schnell«, begrüßt mich der Wachmann mit dem großen Ring hinter dem Tisch der Security.
»Darf ich? Ihr Besucherbuch …«, stottere ich und zeige auf das gebundene Heft auf der Ecke des Tisches. »Soll ich mich austragen?«
»Nein, das kann ich für Sie erledigen.«
»Kein Problem, ich bin ja eh hier!« Ich schlage das Buch auf und greife nach dem Kugelschreiber. Mein Name steht auf der letzten Seite. Absichtlich schlage ich die erste auf und überfliege hastig die Namen.
Wenn Schwarze Acht hier ist … Und falls Nico das gewusst hat … oder selbst wenn er es nicht gewusst hat … Niemand konnte das hier ohne Hilfe durchziehen.
Die erste Seite in dem übervollen Buch datiert zurück bis zum Juni, also bis vor sechs Monaten. Pro Tag kommen ungefähr zwei bis drei Besucher, so dass ich leicht sehen kann, wer vor fünf Monaten hier war … und vor vier Monaten … und wieder vor drei Monaten …
O Mist!
Nein … das kann nicht sein.
Aber es ist so.
Eine Zwinge scheint sich um meinen Brustkorb zu legen, die meine Lungen zusammenquetscht. Aber noch bevor ich reagieren kann, vibriert das Handy in meiner Tasche.
Auf dem Display sehe ich Dallas’ Namen.
»Hoffentlich sitzen Sie«, begrüße ich ihn.
»Sagen Sie nichts. Hören Sie einfach nur zu«, erwidert er eindringlich. »Wir haben hier einen Notfall.«
»Glauben Sie mir, der Notfall ist hier.«
»Nein, Beecher. Der Notfall ist hier. Hören Sie mir zu? Ich hatte ein paar Leute gebeten … Ein paar von unseren Leuten haben Clementine überprüft. Aber als sie ihre Adresse herausgesucht haben …«
»Sie ist da nicht unter ihrem Namen gemeldet. Das weiß ich. Das Haus gehört ihrer Großmutter.«
»Das haben Sie mir gestern Abend bereits erzählt. Das ist ja das Problem, Beecher. Wir haben den Namen überprüft, und nach dem, was wir herausgefunden haben …« Er legt eine kurze Pause ein, damit ich ihm auf jeden Fall zuhöre. »Clementines Großmutter ist vor acht Jahren gestorben.«
Der Druck in meinem Brustkorb wird immer größer. Ich blättere immer noch das Besucherbuch durch, aber irgendwie kann ich nicht behaupten, dass ich überrascht bin.
»Ich weiß«, erwidere ich.
»Sie wissen … was? Was soll das heißen?«
Ich blicke wieder in das Besucherbuch und lese den Namen, der hier immer wieder auftaucht. Vor drei Monaten, vor zwei Monaten, sogar letzten Monat; und die Unterschrift beseitigt jeden Zweifel. Es ist die flüssige Unterschrift der einen Person, die, wie ich jetzt begreife, Nico nicht erst seit gestern besucht hat, sondern seit über drei Monaten.
Clementine.
89. Kapitel
Sechsundzwanzig Jahre zuvor
Journey, Ohio
Es war Donnerstag, und der Friseurladen war noch abends spät geöffnet.
Der junge Friseur war nicht begeistert; bei jedem anderen Kunden hätte er den Laden längst geschlossen und wäre gegangen. Ganz besonders heute Abend. Heute war der Abend, an dem sie immer Karten spielten. Vincent war Gastgeber, was bedeutete, sie spielten Whist und aßen dazu diese guten Piroggen, die Vincent bestellte. Wahrscheinlich essen die anderen sie wahrscheinlich jetzt schon, dachte Laurent, als er auf seine digitale Armbanduhr blickte und dann einen Blick durch das große Fenster nach draußen warf. Aus dem schwarzen Himmel begann es zu schütten wie aus Eimern.
Zehn Minuten noch. Ich warte keine Minute länger, nahm er sich vor. Allerdings hatte er sich das vor zehn Minuten auch schon vorgenommen.
Und zehn Minuten davor.
Wäre es um jemand
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