Die Mädchen (German Edition)
egoistische Kuh. Da
war sein Vater verstorben, das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter war
völlig durcheinander gebracht und sie hatte keine anderen Sorgen, als die
eifersüchtige Freundin zu spielen. Es war doch klar, dass Timo dafür im Moment
kein Ohr hatte. Aber worüber sollte sie sonst nachdenken, wenn er es nicht
einmal für nötig hielt, sie in seine Trauer einzuschließen? Sie hätte ihm
beweisen können, was für eine gute Freundin sie war, wenn er sie nur teilhaben
ließe. Und dass er das nicht tat, konnte etwas mit seiner Mutter zu tun haben,
wie sie zunächst vermutet hatte. Da er das jedoch strikt ausschloss, blieb ja
nur, dass sie ihm nicht wichtig genug war. Die andere hätte er bestimmt zu
seiner Mutter mitgenommen.
Sie erstarrte. War es das? Hatte
Timo verhindern wollen, dass seine Mutter die frappierende Ähnlichkeit auffiel?
War ihr das etwa schon im Krankenhaus aufgefallen? Hatte sie deshalb so distanziert
gewirkt? Wollte Timo sie nicht noch mal darauf stoßen? Wenn das zutraf, dann
allerdings war ihm das Ganze bewusst. Und plötzlich beschlich sie ein
schrecklicher Verdacht. Ihre Gedanken gingen zurück zu dem Tag, an dem sie sich
kennen gelernt hatten. War es möglich, dass Timo das alles eingefädelt hatte?
Hatte er absichtlich dafür gesorgt, dass sie ihm den Kaffee auf die Hose
schüttete? Sie ließ den Vorfall mehrmals vor ihrem geistigen Auge abspielen.
Ja, es war möglich, nein, sogar ziemlich wahrscheinlich. Er hatte es darauf
angelegt gehabt.
Sie konnte es nicht fassen. Da
hatte er sie manipuliert, und sie war voll darauf eingestiegen. Sie war sogar
noch dankbar für diesen Zufall gewesen, weil sie ihn ja selbst so sympathisch
gefunden hatte. Es war beinahe zum Lachen. Er hatte ihr von Anfang an etwas
vorgemacht und sie hatte ihm bereitwillig aus der Hand gefressen. Sie hatte
alle Merkwürdigkeiten akzeptiert und versucht, eine Entschuldigung für sein
seltsames Verhalten zu finden. Dabei gab es gar keine. Er hatte sie ausgesucht,
weil sie ihn an seine Ex erinnerte und nichts weiter. Und sie hatte Gefühle in
eine Beziehung investiert, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen
war, weil er sich niemals wirklich auf ihre Person eingelassen hatte.
Na, damit war jetzt Schluss. Sie
würde sich nicht länger unter Wert verkaufen. Sie war sich selbst zu schade, um
als Lückenbüßerin herzuhalten. Wenn er sie nicht um ihretwillen haben wollte,
bekam er sie eben gar nicht. Mit einer solchen Halbherzigkeit konnte und wollte
sie sich nicht zufrieden geben, egal, wie viel er ihr auch bedeutete. Sie würde
immer mit der Gewissheit leben, dass er nur mit ihr zusammen war, weil er die
andere nicht bekommen konnte und das würde sie nicht aushalten. Nein, je eher
sie die Sache beendete, umso besser war es für sie. Sicher, es würde wehtun, da
machte sie sich nichts vor, aber irgendwann würde sie schon darüber hinweg kommen.
Alles war besser als die Alternative, denn dann würde sie ewig leiden. Bevor
sie ihn allerdings endgültig aus ihrem Leben strich, musste sie die Geschichte
für sich abschließen und dafür musste sie noch eine Sache tun.
Christopher Tuchel hörte, wie unten
die Haustür ins Schloss fiel, und atmete auf. Endlich war seine Mutter gegangen
und er hatte das Haus für sich. Jeden Tag sehnte er sich aufs Neue nach diesem
einen kostbaren Moment, den sie das Haus verließ, um Besorgungen zu machen.
Seit über drei Wochen war er jetzt wieder bei ihr und es war nur schwer
auszuhalten. Seine Freiheit hatte er sich irgendwie anders vorgestellt, als bei
seiner Mutter zu sein, die jeden seiner Schritte misstrauisch beäugte. Er
versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, aber wie gut konnte das funktionieren,
wenn man im selben Haus wohnte?
Nach seiner dritten Nacht hatte er
den Mut gefasst und sie darauf angesprochen, warum sie ihre Tür nachts
verschloss. Sie hatte behauptet, dass sie das schon seit Jahren tat und nichts
mit ihm zu tun hatte, aber überzeugen konnte ihn das nicht, zumal sie es
tunlichst vermied, ihn dabei anzusehen. Er hatte lieber gleich verzichtet, sie
zu fragen, ob sie immer noch an seine Unschuld glaubte, wie sie jahrelang behauptet
hatte, weil er sich nicht noch die letzte Illusion nehmen wollte. Und da das
Thema Gefängnis für sie anscheinend tabu war, - wenn sie auf seine Abwesenheit
in den letzten Jahren zu sprechen kam, konnte man fast den Eindruck bekommen,
als hätte er sich auf einer Abenteuerreise befunden -, war klar, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher