Die Mädchen (German Edition)
nicht
mit ihm über Schuld und Unschuld diskutieren wollte. Sie hatte nicht einmal
diesen fürchterlichen Zeitungsartikel erwähnt, obwohl sie ihn hundertprozentig
gelesen hatte.
Er konnte es immer noch nicht
glauben, dass so etwas überhaupt gedruckt werden durfte. Las da niemand
Korrektur? Gab es da nicht mal so etwas wie Anstand? Die ersten zwei Tage hatte
er sich gar nicht nach draußen getraut, immer in der Angst, jemand könnte ihn
erkennen. Aber letztendlich hatte er sich doch ein Herz gefasst. Schließlich
konnte er sich ja nicht sein ganzes Leben lang verstecken. Dann hätte er ja
auch gleich im Knast bleiben können. Es war hart gewesen, obwohl er nur eine
kurze Strecke zum Bäcker um die Ecke gegangen war. Jedem, der ihm begegnete,
warf er einen verstohlenen Blick zu, immer darauf gefasst, gleich verbal angegriffen
zu werden, doch nichts war geschehen.
Das hatte ihn ruhiger werden lassen
und er war am darauf folgenden Tag todesmutig in die Innenstadt gegangen, um
ein wenig zu bummeln. Es war erstaunlich, wie viele alteingesessene Lübecker
Geschäfte es nicht mehr gab. Haerder, Anni-Friede, Beutin, alle weg. Ob der
Euro daran schuld war? Nicht, dass er da hätte mitreden können, er hatte die
Umstellung nur aus dem Knast verfolgt, aber man hörte so allerhand. Und dann
die ganzen Döner-Läden. Die schossen ja wie Pilze aus dem Boden. Jedenfalls war
er die ganze Zeit unbehelligt geblieben. Vielleicht hatte er die Wirkung von
Zeitungsberichten überschätzt. Womöglich musste er sich erst wirklich Sorgen machen,
wenn sein Bild im Internet auftauchte.
Es klingelte an der Tür. Wer mochte
das wohl sein? Die Post vielleicht? Eine Nachbarin, die sich was borgen wollte?
Besuch für ihn würde wohl kaum vor der Tür stehen. Wenn schon niemand zu ihm in
den Knast gekommen war, würde sich jetzt auch keiner von früher bei ihm melden
wollen, um alte Zeiten aufleben zu lassen. Er musste beinahe grinsen bei dem
Gedanken, auch wenn es eher traurig war. Warum sollte außerdem jemand drei
Wochen warten, bis er ihn besuchte? Er sprang von seinem Bett auf, er tat die
meiste Zeit nichts anderes, als darauf zu liegen und an die Decke zu starren,
und lief die Treppe hinunter.
Nachdem er die Tür geöffnet hatte,
wusste er gleich, dass etwas nicht in Ordnung war. Und dass er sich geirrt
hatte, denn es war doch für ihn. Ein Mann um die Vierzig, mittelgroß und blond,
der auffallend gut gekleidet war, und eine sehr hübsche Frau Mitte Zwanzig
standen vor ihm.
„Herr Tuchel?" fragte sie.
„Christopher Tuchel?"
Sie musste gar nicht mehr sagen.
Schon an der Art, wie sie nach seinem Namen fragte, erkannte er, dass sie von
der Polizei war. Er nickte nur.
„Das ist Oberkommissar Frohloff und
mein Name ist Siewers. Wir sind von der Mordkommission." Woher auch sonst?
„Dürfen wir einen Moment hereinkommen? Wir hätten da ein paar Fragen an
Sie."
Stumm hielt er ihnen die Tür auf.
Er hätte auch gar nichts sagen können, so trocken war sein Mund. Sein Herz
begann zu rasen. Er hatte das Gefühl, ein déja vu zu erleben. Genau wie vor
acht Jahren. Auch da hatte alles ganz freundlich begonnen und dann war
plötzlich die Hölle losgebrochen. Sollte sich das alles wiederholen? Was war
hier los? Konnten die ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
Er bat sie nicht weiter hinein,
sondern blieb mit ihnen im Windfang stehen. Das schien vor allem ihn zu
irritieren.
„Sie sind vor kurzem aus dem
Gefängnis entlassen worden."
Er nickte, obwohl es eigentlich
mehr eine Feststellung als eine Frage war.
„Weil Sie ein Mädchen ermordet
hatten."
Das war ja ein Schnellmerker. Eine
tolle Einleitung. Er räusperte sich.
„Entschuldigung“, begann er, selbst
verwundert, dass er etwas herausbekam. Er hatte das Gefühl, als klebte seine
Zunge am Gaumen fest, so trocken war sein Mund. „Sind Sie deshalb hier? Wenn
ja, dann möchte ich Sie bitten zu gehen. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust
mehr darüber reden. Das ist abgehakt und ich habe meine Strafe abgesessen."
„Stimmt. Darum geht es auch nicht.
Wo waren Sie den gestrigen Tag so nachmittags ab halb zwei?"
Mehrere Alarmglocken sah er vor
seinem inneren Auge rot leuchten, während sie ein lautes Signal abgaben, das
ihm sagte, auf keinen Fall seine Frage zu beantworten, ehe er nicht wusste, worum
es ging.
„Warum wollen Sie das wissen?"
„Beantworten Sie einfach die
Frage."
Keine Chance. Den Fehler hatte er
schon einmal gemacht und das hatte ihm acht Jahre
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