Die Mädchen (German Edition)
nahm er das Recht, sie einfach einzuschließen? Verstieß das
nicht gegen die Menschenwürde? Hatte nicht jeder Mensch das Recht, sich frei zu
bewegen? Sie glaubte sich an einen Text erinnern zu können, in dem Hausarrest
bei Kindern als unzulässige Erziehungsmaßnahme bezeichnet worden war. Es war
doch so was wie Freiheitsberaubung. Sie hätte nicht gezögert, ihren Vater
anzuzeigen, wenn er sich damit tatsächlich strafbar machte.
Dass der sich plötzlich als
Übervater präsentierte, ging ja wohl auch gar nicht. Wo war er denn gewesen,
als ihre Mutter sich besinnungslos gesoffen hatte? Wer hatte sie ständig
irgendwo aufgesammelt? Er ja wohl nicht. Dass sie ihm abends die liebe Tochter
vorspielte, hatte er ohne zu hinterfragen geschluckt, einfach weil es so
bequemer war, als sich mit seiner Familie wirklich auseinandersetzen zu müssen.
Und jetzt, nachdem er wusste, was los war, weil sie ihn mit der Nase
draufgestoßen hatten, jetzt spielte er sich als Retter auf, der Arsch.
Ihr Geld hatte er ihr auch nicht
zurückgegeben. Es war wirklich kaum zu glauben. Sie hatte es sich redlich
verdient und er enthielt ihr es vor. Sie hätte schreien können. Als ob es nicht
schon schlimm genug war, dass er die Bullen zum Herumschnüffeln in ihr Zimmer
geschickt hatte. Wenn sie daran dachte, wie die alles bei ihr durchwühlt
hatten, wurde ihr immer noch ganz schlecht. Aus lauter Bock hatte sie die Musik
noch ein bisschen lauter aufgedreht. Linkin’ Park waren ja ohnehin schon nicht
von schlechten Eltern, aber bei voller Lautstärke für einen Nichtfan kaum zu
ertragen. Gut so. Sollte er sich richtig aufregen.
Sie hatte damit gerechnet, dass er
sofort zu ihr hoch gelaufen kam, aber er war abgelenkt worden. Frau Tarnat. Sie
hatte einen schönen Schreck bekommen, als sie aus dem Fenster gesehen hatte,
wie die Mutter ihrer ehemals besten Freundin die Auffahrt hochkam. Fuck! Verdammter
Mist. Es lief auch gar nichts im Moment. Sie hatte mit der Faust auf die
Fensterbank gehauen und sich dabei ordentlich die Knöchel angestoßen. Scheiße,
tat das weh! Sie wusste genau, warum die Frau hier aufgetaucht war. Um ihrem
Vater zu erzählen, womit sie ihr Geld verdient hatte. Jackie hatte sicher
gequatscht. Toll! Na, was sollte es? Mit ihrer schönen Einnahmequelle war seit
ein paar Tagen wie aus heiterem Himmel ja sowieso Schluss und sie hatte keine Ahnung
wieso. An ihr konnte es jedenfalls nicht gelegen haben, so wie sie sich immer
ins Zeug gelegt hatte.
Die CD war durchgelaufen, als sie
unten die Tür hörte. Sie war vom Bett aufgesprungen und ans Fenster gerannt und
hatte Jackies Mutter gehen sehen. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass
gleich ihre Tür aufgerissen wurde, aber nichts dergleichen war geschehen.
Stattdessen hörte sie den BMW ihres Vaters wegfahren. Na, prima. Jetzt haute er Bent bestimmt ein
paar rein. Sie hatte kurz überlegt, ob sie ihren Onkel warnen sollte, es dann
aber gelassen. Schließlich hatte er ihr ja auch den Geldhahn zugedreht, da
konnte er ruhig ein paar Ohrfeigen vertragen.
Sie war aufgestanden und hatte das
Fenster geöffnet. Sie stieg auf das Fensterbrett und wippte ein bisschen hin
und her. Schien stabil. Es würde sie wohl halten. Dann warf sie ein Blick auf
die Hauswand. Da gab es wohl keine Möglichkeit, unbeschadet runterzurutschen.
Rechts war die Regenrinne. Wenn sie sich ordentlich lang machte, konnte sie die
erreichen. Aber würde sie sie halten? Sie hatte wenig Lust, sich den Hals zu
brechen, weil die unter ihrem Gewicht zusammenbrach. Scheiße! Also blieb ihr
nur, sich nach der Schule zu verpissen. Sie hatte das Fenster wieder
geschlossen und sich aufs Bett geschmissen. Aus purer Langeweile hatte sie sich
ihre Fingernägel knallrot lackiert.
Nach einer halben Stunde
hörte sie den Wagen zurückkommen. Das ging fix. War Bent nicht zu Hause
gewesen? Jetzt würde es nicht mehr lange dauern und sie hatte ihren Vater auf
der Pelle. Da...Sie hörte schon eilige Schritte auf der Treppe und einen
Augenblick später den Schlüssel im Schloss. Die Tür wurde aufgerissen und ihr
Vater stürmte herein.
„Lässt du mich jetzt endlich wieder
raus?“
„Frau Tarnat war vorhin hier.“
Sie rollte mit den Augen. „Hast du
nichts Neues, das du mir erzählen kannst?“
Sie wollte ihn reizen und sie
wusste, dass es ihr eher gelingen würde, wenn sie ganz ruhig blieb. „Jetzt werd
nicht frech, kleines Fräulein. Es ist unfassbar, was sie mir erzählt hat.“
Betont gelangweilt betrachtete
Merle
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