Die Mädchen (German Edition)
da so ernst und so erwachsen vor ihm sitzen sah. Er legte die Zeitung
beiseite. „Das kann ich dir nicht sagen. Wir wissen noch nicht, warum sie sterben
musste. Nur soviel, das Mädchen hat mit dir nichts zu tun.“
„Was meinst du: Hat sie gewusst,
was mit ihr passiert?“
Gute Frage. „Ich weiß es nicht.“
„Wenn ja, hat sie sicher furchtbare
Angst gehabt.“
Was sollte er sagen? Er konnte ihr
keinen Trost spenden, weil es dafür keinen Trost gab. Es war genau, wie sie
gesagt hatte.
„Ich hatte Angst.“ Es war wie ein
Flüstern, sodass er im ersten Moment gedacht hatte, sie hatte gar nichts von
sich gegeben, aber ein Blick in ihr Gesicht sagte ihm, dass er sich das nicht
eingebildet hatte. Er erhob sich, setzte sich zu ihr auf die Lehne und legte
ihr den Arm um die Schultern.
„Ich weiß, mein Liebling. Aber es
ist vorbei.“
„Ich war da in diesem Keller und
ich wusste die ganze Zeit, dass ich sterben würde, sobald ich nicht mehr
gebraucht wurde.“
Er strich ihr über den Kopf. „Sch…“
„Nein. Es tut gut, es mal
auszusprechen. Mein Therapeut sagt das immer und ich muss sagen, er hat Recht.
Ich wusste genau, wenn ich erst mal erzähle, was ich weiß, werde ich getötet.
Es war furchtbar. Ich hatte tierische Angst dort im Dunkeln zu hocken und
gleichzeitig wusste ich, dass ich euch enttäuscht hatte.“
Sein ganzer Körper versteifte sich.
„Was?“
„Ich hab nicht auf euch gehört und
bin dadurch erst in diese Situation gekommen. Ich bin doch selbst schuld an
allem. Ihr habt euch solche Sorgen um mich gemacht.“
Wie stark sie auf einmal klang und
gleichzeitig so verzweifelt. Was sich da so alles in ihrem Kopf abspielte…
„Hör mal, Vicky.“ Er nahm sie bei
den Schultern und sah ihr fest in die Augen. „Ich meine das jetzt ganz ernst
und ich spreche da auch für deine Mutter. Dich trifft überhaupt keine Schuld an
dem, was dir passiert ist. Und wenn du hundertmal nicht auf uns gehört hast. Es
war nicht deine Schuld.“
„Aber…“
„Kein Aber. Deine Mutter und ich
sind überglücklich, dass dir nichts Schlimmes passiert ist. Alles andere hat
keine Bedeutung für uns. Wir lieben dich und wünschen uns nichts mehr, als dass
du glücklich bist.“
Sie nickte, sah ihn dabei aber
nicht an. Er hörte, wie sie tief Lust
Luft
holte. Dann löste sie sich sanft von ihm
und stand auf. „Ich werde dann mal wieder nach oben. Ich hab echt noch viel zu
tun für die Schule.“
Und im Internet warteten bestimmt
ein paar Leute auf eine Antwort von ihr. „Ist gut.“
Sie ging zur Tür und blieb kurz
davor stehen. „Danke, Dad .“
Er musste schlucken. „Wofür?“
„Für alles. Ich hab dich lieb und Mum auch.“
Dann verschwand sie und er hörte,
wie sie die Treppen nach oben hastete. Er legte den Kopf in den Nacken und
atmete tief durch. Hatten sie eben einen Durchbruch erzielt?
Bent Masio stand auf seinem kleinen
Austritt und rauchte eine Zigarette. Er hatte schon fast die ganze Schachtel
Camel aufgeraucht und es war mal gerade vierzehn Uhr. Es war jetzt zwei Tage
her, dass die Polizei seine Wohnung auf den Kopf gestellt hatte und seitdem
hatte er nichts von ihnen gehört. Er wusste, dass sie nichts gefunden hatten,
Gott sei Dank hatte er Pinky seinen Laptop gegeben, aber ihm war auch klar,
dass es dabei nicht bleiben würde. Irgendwann würden sie von der Hütte Wind
bekommen und spätestens dann würden sie auch etwas finden. Er hatte sich zwar
Mühe gegeben, alle Spuren zu verwischen, aber das hätte keiner gründlichen
Untersuchung standgehalten, soviel hatte er von CSI gelernt.
Er spürte förmlich, wie sich die
Schlinge um seinen Hals legte und es nur eine Frage der Zeit war, bis sie
zugezogen werden würde. Die Andeutung dieses Kommissars, er hätte Judith nur als
Vorwand benutzt, um sich an Sina heranzumachen, hatte ihn nachdenklich gemacht.
War er mit seiner Bemerkung gegenüber der Polizei, die Beziehung zu Judith wäre
von seiner Seite so gut wie beendet, doch etwas voreilig gewesen? Vielleicht
sollte er sie doch nicht so schnell abschreiben. Es war sicher besser, sie so
lange wie möglich auf seiner Seite zu wissen. Deshalb hatte er letztendlich
doch auf ihre zahlreichen Nachrichten auf seiner Mailbox reagiert und sie
zurückgerufen. Sie hatte sich äußerst reserviert verhalten, kein Wunder, aber
er hatte sie recht schnell besänftigen können. Ob sie seine Ausrede des leeren
Akkus geschluckt hatte, konnte er nicht sagen, aber zumindest hatte sie
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