Die Mädchen (German Edition)
patent. Judith wusste, dass sie ihre Mutter niemals im Stich lassen
würde, wenn es darauf ankam und das schloss auch sie und ihre Schwester mit
ein, auch wenn sie an und für sich nichts für Kinder übrig hatte. Sie waren
Almuts Kinder und für ihre Freundin hätte sie alles getan. Dass sie gestern
Abend sofort alles stehen und liegen gelassen hatte, um ihnen beizustehen, war
das beste Beispiel dafür.
Aber so dankbar sie ihr auch dafür
war, dass sie über Nacht geblieben war und sich um ihre Mutter gekümmert hatte,
war es jetzt an der Zeit, dass sie wieder nach Hause fuhr. Sie würde schon mit
ihrer Mutter fertig werden, wenn die erst mal ein paar Stunden Schlaf hinter
sich gebracht hatte. Doch Zoe machte keinerlei Anstalten, ihr den Gefallen zu
tun. Im Gegenteil, es schien fast so, als stellte sie sich auf einen längeren
Aufenthalt ein. Als Judith die Treppe herunterkam, stellte sie mit Entsetzen fest,
dass sich zu dem Rucksack im Flur, den Zoe in der Nacht mitgebracht hatte, eine
Reisetasche gesellt hatte. Sie stieß die Tür zur Küche auf und sah, wie Zoe
sich in aller Seelenruhe einen Becher Kaffee einschenkte. Der wievielte war das
eigentlich an diesem Morgen? Der achte?
„Was ist?“ fragte sie.
„Nichts.“ Sie betrat die Küche und
nahm sich ebenfalls einen Becher. „Musst du nicht zur Arbeit?“
Zoe hatte vor ein paar Jahren mit
zwei anderen Frauen eine Unternehmensberatungsfirma gegründet. Coaching nannte
sie, was sie tat. Judith wusste nicht genau, was ihre Qualifikation dafür war
oder wie das genau funktionierte, aber es schien gut zu laufen, wenn sie
beispielsweise sah, was Zoe sich als Wagen leisten konnte.
„Nein, ich hab den Termin für heute
auf nächste Woche verlegen können. Und den für morgen kann meine Partnerin Tina
übernehmen. Ihr habt jetzt Vorrang.“
Na, war das nicht toll! Und wie
sollte Bent sich jetzt rausmogeln? Sie sah sich schon im Geiste für ihn
heimlich etwas vom Mittagessen abzweigen. Scheiße, das konnte nie im Leben gut
gehen. Wortlos trank sie aus ihrem Becher.
„Weißt du, ich hab vorhin, als du
deine Mutter ins Bett gebracht hast, schnell meine Tasche aus dem Auto geholt.
Ich hab mir schon gedacht, dass ihr mich brauchen werdet, deshalb hab ich
gestern gleich ein paar mehr Sachen zusammen gepackt. Ich denke, es ist das
Beste, wenn ich ein paar Tage hier bleibe, oder was meinst du?“
Ein paar Tage? Um Gottes Willen.
Judith zuckte mit den Achseln, verfolgte dabei aber mit argwöhnischem Blick,
wie Zoe mitsamt Becher auf der Wohnzimmercouch Platz nahm. Sie nahm einen
Schluck Kaffee, stellte den Becher vor sich auf den Tisch und zog die Beine an,
wobei sie ihre schrecklichen Birkenstock Hausschuhe abstreifte. Dann klopfte
sie neben sich auf das Sofa.
„Komm, setz dich zu mir.“
Innerlich widerwillig, aber
äußerlich versucht sich nichts anmerken zu lassen, kam Judith der Aufforderung
nach. Ihren Becher hielt sie mit beiden Händen fest.
„Sag, wie geht es dir?“ Zoe
bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. „Es tut mir ganz schrecklich leid,
was mit deiner Schwester passiert ist.“
Judith merkte, wie sich ihre Augen
mit Tränen füllten. Während der ganzen Aufregung an diesem Morgen hatte sie
fast vergessen, dass ihre Schwester nicht mehr wiederkommen würde. Sie drehte
sich weg und konzentrierte sich auf ihren Kaffee. Jetzt bloß nicht anfangen zu
heulen.
„Ihr habt euch nicht so gut
verstanden in letzter Zeit, oder?“
Sie hob und senkte die Schultern.
„Ich denke, das ist ganz normal in unserem Alter.“
„Habt ihr euch viel gestritten?“
Und wie! „Nein, aber wir haben uns
auch nicht viel gesehen.“
„Und ihr habt euch nicht wegen Bent
gestritten?“
Judith erstarrte. „Woher…“ Es war
raus, bevor sie darüber nachdenken konnte.
Zoe wiegte den Kopf hin und her und
streichelte ihr über die Hand. „Ich bin einfach ein guter Beobachter.“
„Es ist echt albern, wenn man
länger darüber nachdenkt.“ Aber selbst in ihren Ohren klang das hohl. Wenn sie
da an das letzte Gespräch mit ihrer Schwester dachte.
Das Telefon klingelte und bei dem
Geräusch zuckten beide zusammen.
„Soll ich…?“ fragte Zoe.
„Ich mach schon.“ Sie ging an den
Apparat.
„Keller.“
„Du kannst dich ruhig verkriechen“,
hörte sie eine Männerstimme sagen. „Aber trotzdem wirst du mich nicht so
schnell los.“
Ihr stockte der Atem. „Wer ist da?“
rief sie in den Hörer. Und der Anrufer legte auf.
Zoe war nicht entgangen, dass
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