Die Mädchenwiese
verlassen!«
Der Gedanke, Ferdinand zu verlassen, erschien mir absurd. Was sollte meine Mutter von mir denken? Und erst die Leute in Finkenwerda? Mein Mann war so beliebt im Ort. Wer würde mir glauben, wenn ich behauptete, dass ich es bei ihm, dem vornehmen, im Dorfleben aktiven Ferdinand nicht aushielt? Hatte er nicht sein Leben für mich geopfert? Nahm er nicht all den Stress in der Arbeit auf sich, um mir ein Auskommen zu ermöglichen? Und war nicht ich es, die stattdessen ständig nur an sich selbst dachte? Ich konnte sie schon hören, die Leute, die sich allein an Ferdinands Reife orientieren und verächtlich auf mich mit all meinen Fehlern deuten würden. Fehler, von denen Ferdinand ihnen ganz sicher zu berichten wusste. Ich hätte den Leuten nie wieder begegnen können. Ich hätte mich selbst nie wieder im Spiegel ansehen können.
»Komm zu mir nach Berlin«, schlug Regina vor. »Denk endlich an dich selbst.«
»Und was ist mit meiner Mutter? Soll ich sie etwa alleine lassen?« Bei meinem Onkel? Ich drehte mich um. Ich hatte genug gehört. Ich rannte davon.
»Berta, denk darüber nach«, rief Regina. »Ich werde immer für dich da sein.«
Doch ich lief bereits hinter das nächste Regal. Erst vor der Kasse blieb ich stehen, wo ich feststellte, dass ich meinen Einkaufskorb längst aus den Händen verloren hatte.
Drei Wochen später klopfte meine Tante an unsere Tür. Es dauerte eine Weile, bis ich ihr öffnete. Ich konnte mich kaum bewegen, so stark waren die Schmerzen in meiner Brust. Meine Tante schwieg lange, ehe sie sprach: »Deine Mutter, sie ist … tot.«
Mehr als diese Nachricht schockierte mich mein erster Gedanke.
Komm zu mir nach Berlin! , hallte Reginas Stimme durch meinen Verstand.
Entsetzt hob ich die Hand an den Mund. Meine Mutter war gestorben, und das Einzige, woran ich dachte, war: Nichts und niemand hält mich mehr in Finkenwerda. Mein Atem ging hektisch. Ich rieb mir die wunde Brust.
Die Schläge waren die Strafe dafür gewesen, dass ich eines von Ferdinands weißen Hemden bei der Wäsche verfärbt hatte – dabei war ich mir sicher, dass er selbst das Hemd zu der Buntwäsche in die Maschine gegeben hatte. Glauben Sie ernsthaft, ich wäre noch so nachlässig gewesen?
Berta , hörte ich meine Freundin sagen, du wirst es ihm niemals recht machen können.
Und war ich mir dessen nicht längst bewusst? Ich hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Ich hatte mich an einen Traum geklammert. Wie konnte ich bloß so blind sein – und mich selbst so verleugnen?
Denk endlich an dich selbst!
Es klingt absurd, aber meine Mutter gab mir sogar in ihrem Tod noch einmal die Kraft, die ich so dringend brauchte. Ich würde das Dorf verlassen. Zu meiner Freundin in die Stadt ziehen. Weg von Ferdinand. Gleich nach der Trauerfeier. Im Grunde war alles so einfach.
Doch je näher die Beerdigung rückte, desto aufgeregter wurde ich. Wie würde Ferdinand reagieren, wenn ich meinen Entschluss wahr machte? Musste ich es ihm sagen? Konnte ich nicht einfach meine Tasche packen? Brachte ich tatsächlich so viel Mut auf? Die Ungewissheit begleitete mich auf Schritt und Tritt. Nachts wälzte ich mich schlaflos herum. Am Tag fehlte mir der Appetit, und ich verlor an Gewicht. Immer wieder musste ich mich übergeben, so groß war die Angst.
Am Tag vor Mutters Bestattung erbrach ich mich erneut. Als ich den Kopf hob, streifte mein Blick den Kalender. Schlagartig wurde mir bewusst, dass mein Unwohlsein keineswegs der Ner vosität geschuldet war. Nein, viel schlimmer: Ich war schwanger.
Kapitel 40
Lauras befreites Lachen ging in ein Kichern über. »Das ist sie nicht!«
Ihr Schwager zog seine Augenbrauen zusammen.
»Hast du nicht verstanden?« Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Das da ist nicht Lisa!«
»Du bist verwirrt.«
»Nein!« Die Bäume warfen ihren Aufschrei in einem Echo zurück. »Bin ich nicht. Ich bin mir sicher.«
Frank nahm sie in den Arm. »Lass uns gehen.«
»Nein!« Sie entwand sich seinem Griff. »Lisa ist viel zierlicher, das weißt du doch, schau genau hin, und …« Widerwillig sah sie selbst noch einmal zu dem Leichnam. Ein Polizist breitete gerade eine Plane darüber aus, während ein zweiter versuchte, die Journalisten von der Lichtung zu vertreiben. »Und hast du den Bauchnabel gesehen? Sieh ihn dir an, er … er ist … ganz und gar unversehrt!«
»Was redest du da?«
»Lisa hatte ein Bauchnabelpiercing. Erst letzte Woche gestochen. Verstehst du das denn
Weitere Kostenlose Bücher