Die Mädchenwiese
hochrannte.
Das kurze Innehalten hatte ihrem wunden Körper gutgetan. Sie nahm drei Stufen auf einmal. Doch je weiter sie nach oben kam, umso mehr verließen sie wieder die Kräfte. Als die Hälfte hinter ihr lag, bekam sie kaum noch Luft. Ihr Herz pochte. Der Schweiß floss in Strömen über ihre Haut, entzündete die Wunden und brannte wie Feuer. Sie kämpfte sich weiter die Stufen hoch.
Endlich war sie oben angelangt. Vor ihr tat sich ein weiterer finsterer Gang auf. An dessen Ende schimmerte Licht.
Aus dem Stollen unter ihr hallten Schritte. Lisa taumelte der Freiheit entgegen. Sie konnte dunkle Silhouetten von Gestrüpp erkennen, gleich darauf die Umrisse von Bäumen. Dann sah sie das helle Licht des Mondes. Als würde er nur für sie scheinen. Sie lachte und weinte zugleich, als sie ins Freie taumelte. Du hast es geschafft! Du bist frei! , flüsterte eine Stimme in ihr.
Wind peitschte ihren nackten Körper. Ihre Beine zitterten, drohten unter ihr nachzugeben. Blut quoll aus den Wunden, die während ihrer Flucht wieder aufgeplatzt waren, und tropfte auf den Waldboden. Sie wollte innehalten. Alles in ihr verlangte danach, sich endlich das Kleid anzuziehen, etwas Schutz und Wärme zu finden. In derselben Sekunde verschluckten die Wolken den Mond.
»Lisa!«, rief eine zornige Stimme, vom Wald dutzendfach zurückgeworfen. Der Wind erfasste Lisas Haare und schleuderte sie nach vorne. Lisa stolperte weiter, einer neuen Finsternis entgegen.
Alex spürte, wie ihn die jähe Wut packte. »Mein Hund, der ist …«, stieß er hervor, dann brach er ab. Er wollte aufspringen und Gizmos Wassernapf forträumen. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Er konnte es nicht. Das wäre, als würde er Gizmo aus seinem Leben verbannen. Der Retriever war ein Teil von ihm gewesen. An manchen Tagen hatte er das Tollen und Kläffen seines Hundes gar nicht mehr wahrgenommen. Gizmo war einfach da gewesen.
Sams Mutter zog an ihrer Zigarette und musterte ihn. Auch ihr Sohn sah ihn erwartungsvoll an, aber seine angespannte Haltung verriet, dass dies nicht der Neugier geschuldet war.
»Gizmo ist bei einem Freund«, sagte Alex. Er konnte ihnen jetzt nicht die Wahrheit sagen.
Sam sank erleichtert auf die Bank zurück. Mittlerweile drang aus den Boxen Something In The Way , eine ruhige Ballade.
Sam legte die Beine auf die Bank, rollte sich zusammen und schlang die Arme um seine Mutter. Bald fielen ihm die Augen zu. Während Laura Theis ihm durchs Haar strich, wippte sie gedankenverloren mit dem Fuß. Dann zuckte sie plötzlich zusammen, als sei ihr bewusst geworden, wie unpassend ihr Verhalten war.
»Ich kann die Musik auch ausmachen«, bot Alex an.
»Nein, nein, ist schon okay.«
Er zeigte auf Sam. »Ihm scheint es auch zu gefallen.«
Sie zupfte ihrem Sohn eine Strähne aus der Stirn. »Ich denke, das alles ist zu viel für ihn.« Sie holte Luft. Es war ihr anzumerken, wie sehr sie unter den Ereignissen der letzten Tage litt.
Alex wollte ihr etwas Tröstendes sagen. Das Einzige, was ihm einfiel, war: »Sam ist sehr tapfer.«
»Glauben Sie?«
»Ja.«
Nachdenklich betrachtete sie die rote Glut ihrer Zigarette. »Wissen Sie, Herr Lindner …«
»Alex.«
»Bitte?«
Verlegen berührte Alex die Wunde an seiner Stirn. »Alex, das genügt. Wir leben auf dem Dorf, hier duzt sich jeder.«
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Stimmt, so tapfer.«
»Äh, was?«
Laura strich ihrem Sohn erneut über den Kopf. »Sam ist ein tapferer Junge. Ich habe eine Weile gebraucht, um das zu begreifen.« Sie streckte die Hand nach der Marlboro-Schachtel aus. »Ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Lauter Alltäglichkeiten: unser Haus, der Unterhalt, Trennung, Schulden …« Sie lachte freudlos auf. »Aber was rede ich? Sie wissen, äh, also, du weißt ja, wie es um mich steht. Wir leben in einem Dorf.«
Er schwieg und rieb ein Streichholz an. Sie hielt die Zigarette an die Flamme und zog zweimal fest daran. »Ohne Sam«, sagte sie, »würde ich das alles gar nicht durchstehen. Schon seltsam, oder? Ein kleiner Junge, der mir Kraft gibt.«
»Und du gibst ihm die Kraft.«
Lauras Stimme nahm einen wehmütigen Klang an. »Ich hoffe.«
»Doch, ganz bestimmt«, versicherte Alex, »davon bin ich überzeugt.«
»Hast du Kinder?«
»Nein.«
»Weil du nicht möchtest? Oder … hat es sich noch nicht ergeben?«
Alex schwieg.
»Es tut mir leid, ich wollte dir nicht …«
»Ist schon gut.«
Laura schnippte die Asche in den Becher. Skeptisch
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