Die Mädchenwiese
stand auf und öffnete die Tür. Zu seinem Erstaunen stand nicht Paul auf dem Bürgersteig, sondern Lauras Schwager. Polizisten drängten sich an ihm vorbei in die Kneipe. Wegen des Regens klebten ihnen die Haare an der Kopfhaut, ihre Uniformen waren durchnässt. Sie schleppten Feuchtigkeit und Straßendreck in den Flur, aber das war es nicht, was Alex Sorgen bereitete.
Frank Theis hielt ihm ein Schreiben vors Gesicht. »Herr Lindner, ich habe hier einen Durchsuchungsbeschluss für Ihre Wohnung und für Ihre Kneipe.« Er brachte einen zweiten Brief zum Vorschein. »Und das ist ein Haftbefehl. Gegen Sie wird ermittelt wegen des dringenden Tatverdachtes des Mordes, außerdem wegen des Verdachts der Entführung in mindestens einem Fall. Sie sind festgenommen.« Theis winkte zwei Beamte zu sich. »Bringen Sie ihn zum Verhör aufs Revier.«
Kapitel 47
Vermutlich ahnen Sie es schon: Nach der Geburt unseres Sohnes verlor mein Mann endgültig alle Hemmungen. Ich war nicht länger seine Frau, noch weniger die Mutter seines Sohnes. Ich war nichts. Nur ein Spielball seiner sadistischen Launen, die er an mir auslebte.
Ferdinand quälte mich, wann immer es ihn überkam, und es überkam ihn oft, manchmal mehrmals die Woche, abends nach der Arbeit. Er schlug mir nie wieder direkt ins Gesicht, so wie an jenem Tag meiner Heimkunft. Er musste ja auf die Leute im Dorf Rücksicht nehmen.
Doch seine Grausamkeiten wurden unaussprechlicher – und jedes Mal war ich ihm beinahe dankbar, wenn er schließlich seine Hände um meine Kehle legte. Denn dann dauerte es nicht mehr lange, bis mich Dunkelheit umfing.
Manchmal flehte ich sogar still und heimlich, dass dieses Leid endlich ein Ende haben solle. Ich konnte die Schmerzen nicht mehr ertragen, mir fehlte die Kraft.
Wenn ich dann Stunden später im Keller erwachte, den Schritten im Haus lauschte, der Musik, dem Kindergebrabbel, vor allem dem Kindergebrabbel, dann verwarf ich die Todessehnsucht. Denn wenn nicht ich, wer würde dann meinen Sohn vor diesem Scheusal beschützen können?
Nein, unseren Sohn rührte Ferdinand in all dieser Zeit nicht an, nicht so wie mich. Natürlich schlug er ihn, wenn der Junge nicht spurte. Stellte den Kleinen in die Ecke, wenn er unartig war. Aber was war das im Vergleich zu all dem Leid, das ich zu ertragen hatte?
Wenn meine Qualen der Preis dafür waren, dass mein Sohn ohne wirklich schlimme Blessuren aufwachsen durfte, dann war ich bereit, dieses Leid zu ertragen. Jederzeit.
Natürlich erkannte mein Sohn irgendwann, mit was für einem Ungeheuer er unter einem Dach lebte. Denn mit der Zeit sperrte mein Mann mich auch einfach so in den Keller, damit er seine Ruhe hatte, damit ich nicht auf dumme Gedanken kam oder aus welchen Gründen auch immer. Manchmal musste ich sogar tagsüber in mein Gefängnis. Dann brachte Ferdinand unseren Sohn in den Kindergarten, und erst am Abend sah ich die beiden wieder.
»Papa, warum muss Mami in den Keller?«, fragte mein Sohn eines Abends, nachdem er mit seinem Vater heimgekehrt und ich aus meinem Verlies befreit worden war.
Der Junge war mittlerweile drei Jahre alt, und er saß mit seinem Vater im Wohnzimmer. Ich bereitete in der Küche das Abendbrot. Auch auf die Gefahr hin, dass das Essen sich verspätete, hielt ich inne. Ich konnte nicht anders.
»Das gehört sich so«, sagte Ferdinand.
»Warum?«
»Weil Mami krank ist, verstehst du?« Ferdinand dämpfte seine Stimme. »Aber, das darfst du niemandem erzählen, auch nicht im Kindergarten, hast du verstanden?«
»Ja.«
»Denn sonst ist deine Mutti für immer weg.«
Ich hielt mich an der Anrichte fest. Mir war schwindelig. Am liebsten wäre ich in die Stube gerannt, hätte den Jungen an mich gerissen und wäre aus dem Haus gestürmt, nur weg, ganz weit weg. Doch ich rührte mich nicht von der Stelle.
Du wirst mir meinen Sohn nicht nehmen , hatte Ferdinand gedroht, eher bringe ich dich um. Das glaubte ich ihm aufs Wort. Sie etwa nicht?
Kapitel 48
Laura sah bestürzt dabei zu, wie der Mann, dem sie eben noch ihr Herz ausgeschüttet hatte, von den Kollegen ihres Schwagers zu einem Streifenwagen abgeführt wurde. Hinter der Absperrung, die errichtet worden war, rangen Journalisten um die besten Plätze. Blitzlichter tauchten den nassen Asphalt in gespenstisch zuckendes Licht.
»Frank«, rief Laura, während Sam sich an sie klammerte. »Warum verhaftet ihr … Herrn Lindner?«
»Sag du mir lieber, was du bei ihm zu suchen hattest? Worüber habt ihr
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