Die Mädchenwiese
rubbelte sie ihre Arme und Beine warm. Sie war müde. Am Ende.
Denk an Sam! , befahl sie sich in Gedanken.
»Du bist stark«, schrie sie gegen den Sturm an. Hinter sich hörte sie ein Knirschen.
»Da ist niemand«, flüsterte sie. Es knackte im Unterholz. Sie quälte sich weiter. Der Wind peitschte auf sie ein. Das nasse Kleid klebte ihr am schlotternden Leib, während sie sich durch den Regen schleppte. Immer wieder musste sie innehalten, weil ihr Körper zu schwach war.
Plötzlich lichteten sich die Bäume und Sträucher, und der Boden wurde fester. Fast gleichzeitig ließ der Regen nach, und durch eine Lücke in der Wolkendecke traten Mond und Sterne hervor. Vor ihr breitete sich eine Lichtung aus. Am liebsten hätte sie sich auf die Knie fallen lassen.
Auf der gegenüberliegenden Seite führte ein schmaler Pfad von der Lichtung weg in den Wald. Ein Pfad bedeutete, dass dort Menschen entlanggegangen waren. Sie hoffte, dass der Bunker noch hinter ihr lag und sie nicht, ohne es zu bemerken, im Kreis gelaufen war. Sie humpelte auf den Pfad zu und hatte das freie Waldstück zur Hälfte überquert, als ihr im schimmernden Mondlicht eine kleine Erhebung auffiel. Etwas ließ sie innehalten.
»Geh weiter!«, flüsterte sie. Doch statt ihren Worten Folge zu leisten, tat sie einen Schritt auf den Hügel zu.
Alex hatte keine Ahnung, wie lange er auf dem ungemütlichen Schemel saß, ohne dass sich jemand blicken ließ. Man hatte ihm Uhr, Handy und Gürtel abgenommen. Irgendwann öffnete sich die Tür zum Vernehmungszimmer des Kriminalkommissariats Berlin-Mitte. Theis kam herein. Alex sprang auf.
»Hinsetzen«, polterte der Polizist.
»Nicht bevor Sie mir erklären, was das alles soll.«
»Ich sagte: Setzen Sie sich hin!«
Alex nahm wieder auf dem Stuhl Platz. »Also?«
»Das frage ich Sie.« Theis blickte ihn streng an. »Wo ist Lisa?«
»Verdammt!« Alex sprang wieder auf. »Das ist doch …«
»Hinsetzen, aber sofort!«
Alex dachte nicht im Traum daran. »Während Sie hier mit mir Ihre Zeit verschwenden, wird dieser Wahnsinnige Ihre Nichte …«
Theis’ Hand krachte auf den Tisch. »Wo – ist – Lisa?«
»Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur, dass die Bestie in Finkenwerda ist und …«
»Ja!« Der Polizist funkelte ihn an. »Deshalb sind Sie ja hier.«
Stöhnend sank Alex auf den Schemel. Das Vernehmungszimmer war fensterlos und winzig. Von den Ermittlern wurde es Kombüse genannt, weil sie ihre Verdächtigen hier weichkochten. Alex wusste das, weil er bis vor drei Jahren selbst Verbrecher mit der Trostlosigkeit eines solchen Raumes konfrontiert hatte. Aber er konnte nicht fassen, dass Theis dachte, auch er würde unter diesen Umständen einknicken. »Glauben Sie tatsächlich, ich hätte was mit der Entführung Ihrer Nichte und dem Mord an …«
»Es geht nicht ums Glauben.« Theis schüttelte den Kopf, während er sich auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs niederließ. »Es geht um das, was uns die Spuren sagen.«
»Spuren?«
»Zum Beispiel Spuren am Körper der Leiche im Wald, die zweifelsfrei Ihnen zugeordnet werden können.«
»Ich bin Silke Schröder niemals begegnet.«
Der Polizist reagierte mit einem mitleidigen Lächeln. Bevor er etwas erwidern konnte, wurde ein Schloss entriegelt, und ein Mann in Jeans und Lederjacke steckte den Kopf in den Raum.
»Ah, Kollege Kalkbrenner«, begrüßte ihn Theis.
Alex konnte sich an Paul Kalkbrenner erinnern: Er hatte vor Jahren mit ihm gemeinsam in einem Mordfall ermittelt. Kalkbrenner reichte Theis einen schmalen Aktenordner und musterte Alex kurz, bevor er den Raum ohne ein weiteres Wort verließ.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte Theis.
»Ich sagte, ich habe Silke Schröder niemals kennengelernt.«
»Ja, richtig.« Der Polizist nickte andächtig, während er die Unterlagen in dem Hefter studierte. »Es gibt da nur ein Problem: Bei der Toten im Wald handelt es sich nicht um Silke Schröder. Ihr Name ist Christina Schmitz.«
»Ich kenne auch keine Christina Schmitz.«
»Aber eine Karen Brandner, oder?«
»Karen …« Alex verschluckte sich. »… Brandner?«
»Wir haben vor wenigen Stunden eine zweite Leiche gefunden …«
»O mein Gott!«
»… auf einer anderen Lichtung, nicht weit entfernt, aber ebenso … bestattet . Es ist Karen Brandner. Bei ih r waren Sie nicht so sorgfältig. An ihr haben wir die Spuren entdeckt, die Ihnen zugeordnet werden können.«
»Das ist …«
»Und es gibt Zeugen, die gesehen
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