Die Mädchenwiese
bist …«
» Meine Eltern!«, unterbrach Alex ihn. »Und nein, sie haben nichts dergleichen angedeutet.«
»Bist du dir sicher?«
»Verdammt, ja!«, brüllte Alex, und Gizmo sprang knurrend auf. »Glaubst du etwa, so etwas vergisst man?«
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Paul zögerte. »Aber warum meldet er sich ausgerechnet jetzt?«
Laura durchsuchte das Adressbuch ihres Handys nach Tommys Nummer, bis ihr einfiel, dass sie sie bereits gelöscht hatte.
Sie lief in die Küche und suchte an einer Pinnwand, an der neben etlichen Postkarten und Einkaufslisten auch ein Blatt mit diversen alten Telefonnummern haftete, nach Tommys Nummer. Als sie sie endlich fand, war sie froh um Lisas Nachlässigkeit, die trotz mehrmaliger Bitten keinen einzigen der Zettel entsorgt hatte.
Laura wählte Tommys Nummer und lauschte dem Freizeichen. Niemand nahm ab. Eine Mailbox sprang ebenso wenig an. Unschlüssig irrte Lauras Blick durch die Küche, wanderte über einen feuchten Fleck an der Decke zu der grellgelben Küchenuhr in Sonnenblumenform, deren grüner Sekundenzeiger laut tickte.
Als sie in den Flur ging, rief sie im Callcenter an. Während sich die Verbindung aufbaute, überlegte Laura sich eine Entschuldigung für ihren Chef. Da ihr keine passende Erklärung einfiel, war sie beinahe erleichtert, als das Besetzt-Zeichen erklang.
Sie nahm ihre Handtasche vom Sideboard, verriegelte die Haustür und ging zu einem kleinen Fertigbau, der nur wenige Meter entfernt lag. Nach dem ersten Klingeln öffnete ihr Schwager die Tür. »Laura, das ist aber …«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Frank, ich hab’ eine Bitte. Ich brauche kurz euren Wagen.«
»Klar, nimm den Golf von Renate.« Frank drehte sich zu seiner Frau um, die hinter ihm im Flur erschien. »Schatz, den brauchst du doch gerade nicht, oder?«
»Hallo, Laura«, grüßte Renate. »Musst du heute nicht arbeiten?«
»Doch, doch, aber … erst später. Vorher muss ich noch etwas erledigen. Einkäufe, ihr wisst schon.«
Renate nahm einen Schlüssel von einem Brett, das an der Wand hing, und gab ihn Laura. »Ich brauche den Wagen erst gegen Mittag.«
»Bis dahin hast du ihn zurück«, versprach Laura und eilte mit dem Autoschlüssel zur Garageneinfahrt.
»Laura?«, rief Renate.
»Ja?«
»Ist alles in Ordnung? Du siehst … beunruhigt aus.«
»Ach was.« Laura zwang sich zu einem Lächeln. »Alles okay.«
Alex überflog den Brief ein weiteres Mal. »Dieser Steinmann schreibt, es gehe ihm nicht gut. Er sei unheilbar krank und werde sterben. Vorher möchte er seinen Sohn kennenlernen. Ihm einiges erklären. Sich entschuldigen.«
»Wirst du dich mit ihm treffen?«, erkundigte sich Paul.
»Was weiß denn ich? Ich hab’ den Brief vor wenigen Minuten zum ersten Mal gelesen.«
Alex sank in den Klappstuhl zurück. Die Sonne brannte jetzt, und Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er wischte ihn weg. Als Gizmos raue Zunge über die salzige Hand schleckte, scheuchte Alex den Retriever fort.
»Aber dieser Steinmann, er hat eine Telefonnummer angegeben, oder?« Paul sah Alex fragend an.
»Ja.«
»Du hast doch dein Handy dabei. Ruf ihn an, red mit ihm, lass dir erklären …«
»Klar doch, kein Problem, ich lasse mir mal eben kurz erklären, warum ich fünfunddreißig Jahre lang …«
»Moment«, warf Ben ein, »noch ist gar nicht sicher, ob was dran ist an diesem Brief. Das sollten wir zuerst überprüfen.«
»Wir?« Alex hob erstaunt den Kopf.
Ben zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, du könntest vielleicht Hilfe gebrauchen. Ich kenn’ mich mit solchen Fällen aus.«
Ben war in einem Berliner Vorort aufgewachsen und hatte nach seinem Studium als Streetworker in den Problembezirken der Stadt gejobbt. Als der Senat im Zuge seiner Haushaltskonsolidierungen Sozialstellen gestrichen hatte, war ihm gekündigt worden. Seitdem fuhr er Taxi, um sich die Miete für den folgenden Monat zu verdienen. Zudem nahm er an Seminaren und Fortbildungen teil und kam mehrmals pro Woche nach Finkenwerda, wo er im ehemaligen Jugendclub für ein paar Stunden ehrenamtlich Hausaufgabenhilfe anbot und einen PC mit Internetanschluss sowie eine wackelige Billardplatte zur Verfügung stellte. Besser als nichts , pflegte er zu sagen und ließ dabei im Unklaren, ob er damit das Angebot für die Jugendlichen oder seine eigene Beschäftigung meinte.
»Früher hatte ich häufig mit Adoptivkindern zu tun, die herausfinden wollten, wer ihre leiblichen Eltern waren«, fügte er erklärend hinzu.
Weitere Kostenlose Bücher