Die Mädchenwiese
machte es sich im Schneidersitz bequem und schlug das Comic-Heft auf.
Daheim durfte er die Simpsons nur selten im Fernsehen gucken, weil es um sechs Uhr, wenn die Serie ausgestrahlt wurde, Abendessen gab. Aber er mochte die gelbe Familie, weil sie allen Streitigkeiten zum Trotz immer wieder zueinanderfand. Und tat sie es einmal nicht, vergoss Bart Simpson keine Träne. Er wurde von niemandem gehänselt, hatte Freunde, mit denen er selber Streiche ausheckte. Er hatte nicht einmal Angst vor Hunden. Sam wäre gerne so cool wie Bart Simpson gewesen.
Während er den Comic las, konnte er wenigstens davon träumen, es zu sein.
Kapitel 5
Fünf Tage nachdem meine Mutter weinend an der Haustür erschienen war, stand ich wie versteinert auf dem Friedhof und sah zu, wie sechs unserer Nachbarn den Sarg, in dem sich mein Vater befand, in ein Erdloch hievten.
Es kommt mir so vor, als wäre das Begräbnis erst gestern gewesen. Ich erinnere mich noch gut an das quälende Gefühl, nicht mehr weinen zu können.
Meine Mutter kauerte mit fahlem Gesicht auf einem Stuhl neben mir, aufrecht gehalten nur von Tante Hilde und Onkel Rudolf, die seit dem Tod meines Vaters nicht von ihrer Seite gewichen waren. Als der Moment des Abschieds kam, goss es in Strömen. Der Regen prasselte auf die Schirme der trauernden Dorfgemeinde. Ein Klackern wie das der Dominosteine, die ihre Bahnen über unsere Terrasse gezogen hatten.
Die Erinnerungen, die dieses Geräusch in mir auslöste, erschienen mir in diesem Moment so unerträglich, dass ich nur noch fort vom Friedhof wollte. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich spürte eine unbändige Wut, die das Gefühl der Trauer verdrängte.
Nur einen morschen Dachbalken hatte mein Vater an jenem Nachmittag austauschen wollen. Der Balken war nicht einmal eine tragende Stütze gewesen, weshalb mein Vater auch meine Hilfe ausschlug und mich stattdessen aus dem Stall und zum Dorfplatz schickte. Zum Abschied winkte er mir mit der Karo zwischen den Fingern, während er meiner Mutter versprach, sie anlässlich des Herbstfestes gewaschen und geschniegelt auszuführen.
Als er abends doch im Stall blieb, machte sich niemand Sorgen. Nur zu gut wussten wir, dass mein Vater bei der Handarbeit meist die Zeit vergaß. Zudem bekam meine Mutter im Verlauf des Abends Kopfschmerzen und wollte für einige Minuten die Augen schließen.
Nach drei Stunden erwachte sie, weil meine Tante und mein Onkel an die Tür klopften. Mutter bat ihren Bruder, nach meinem Vater zu sehen. Wahrscheinlich sei er, so scherzte sie noch, in seinem Eifer erschöpft von der Leiter gefallen.
Dr. Föhringer, unser Dorfarzt, erklärte später, mein Vater hätte sich, nachdem ein morscher Balken seinem Gewicht nicht standgehalten hatte, noch eine ganze Weile auf dem Steinboden gewälzt. Direkt vor dem gusseisernen Schweinetrog, der sein Rückgrat wie einen trockenen Ast zerbrochen hatte. Doch als mein Onkel ihn im Stall fand, war mein Vater längst seinen inneren Verletzungen erlegen, langsam und qualvoll – während ich mit Harald zu der Musik der Stern-Combo Meißen ausgelassen auf dem Dorfplatz getanzt hatte.
»Kleines!«, flüsterte eine Stimme neben mir.
Ich zuckte zusammen. Kleines , so hatte mein Vater mich immer genannt.
Eine Hand berührte meine Schulter. Ich blinzelte und sah direkt vor mir Blumen und Erde in die Tiefe fallen. Ich stand dicht am Grabrand.
»Sei bitte vorsichtig«, mahnte mein Onkel, der noch immer meinen Arm umfasst hielt, damit ich nicht kopfüber in das Erdloch stürzte. Mir erschien der Gedanke in dieser Sekunde verlockend.
Der Regen gewann noch einmal an Heftigkeit. Ich blickte auf die Trauergäste, die der Reihe nach zum Grab gingen. Es dauerte noch eine Weile, bis ich begreifen sollte, dass an jenem Tag auch mein eigenes Leben begraben wurde.
Kapitel 6
Für einen kurzen Moment schaute Laura auf ihr Handy, um Lisas Nummer zu wählen. Als sie ihren Blick zurück auf die Straße richtete, fuhr der Golf jenseits der Mittellinie. Und frontal auf einen Lkw zu.
Entsetzt ließ Laura das Telefon fallen und riss mit beiden Händen das Steuer herum. Der Transporter donnerte an ihr vorbei, seine Hupe dröhnte in ihren Ohren. Sie fuhr den Wagen an den Straßenrand und hörte nur noch ihr eigenes Herzklopfen, unter das sich Techno-Lärm, die Stimme ihrer Tochter und gleich darauf ein Piepton mischten. Schlagartig entlud sich Lauras Anspannung.
»Scheiße, Lisa!« Zornig nahm sie das Handy zur Hand. »Glaubst du etwa,
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