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Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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Schädel drang der Hall sich entfernender Schritte. Die Tür fiel ins Schloss. Danach herrschte wieder Stille.
    Kapitel 15
    »Die Ärzte sagen, es ist …« Meiner Mutter versagte die Stimme.
    »Muskelschwund«, wisperte Tante Hilde beinahe ehrfürchtig, als handelte es sich nicht um eine Krankheit, von der ihre Schwägerin heimgesucht wurde, sondern um den Staatsratsvorsitzenden höchstpersönlich.
    Mein Onkel räusperte sich. »Die Ärzte haben erklärt, dass die Krankheit der Grund für die wiederkehrende Migräne und die Gelenkschmerzen deiner Mutter ist.«
    »Aber …«, sagte ich und sah hilfesuchend meine Mutter an, die neben mir auf dem Sofa saß und nur noch ein Häufchen Elend war. Auf der Couch gegenüber saßen meine Tante und mein Onkel. Vor wenigen Stunden hatten sie meine Mutter aus dem Krankenhaus abgeholt.
    »Aber …«, sagte ich mit bebender Stimme. »Es lässt sich heilen, oder?«
    »So genau … wissen die Ärzte das noch nicht.« Ihr Atem ging röchelnd und strafte ihre Worte Lügen.
    Das war das Schlimmste von allem: dass sie, so schlecht es ihr ging, alles daransetzte, mich vor der Wahrheit zu schützen.
    Mein Onkel straffte sich und erklärte: »Gemeinsam schaffen wir das.« Er hielt die Hand meiner Tante, aber sein Blick galt mir. »Das tun wir doch, oder?«
    Mir krampfte sich der Magen zusammen.
    Als mein Onkel das nächste Mal in mein Zimmer geschlichen kam, dachte ich: Vielleicht trage ich ja selbst die Schuld daran. Vielleicht war es die gerechte Strafe dafür, dass ich getanzt hatte, damals, als mein Vater vom Balken gestürzt war und sich vor Schmerzen auf dem Stallboden gewälzt hatte.
    Auch die Erkrankung meiner Mutter – ihr ständiges Stolpern und Fallen, weil ihre Knochen und Gelenke sie kaum noch trugen, ihre Wirbelsäule, die sich zu einem schauderhaften Hexenbuckel verkrümmte, ihr Husten und Röcheln, weil ihre Lunge immer schwächer wurde – betrachtete ich als Teil meiner eigenen Strafe. Ich hatte es versäumt, nach meinem Vater zu sehen, und jetzt war er nicht mehr da, um sich um meine Mutter zu kümmern.
    Mein Onkel sprach es niemals aus, aber er gab mir mit seinen Blicken und Gesten immer wieder zu verstehen, dass er mich verdiente, dass ich der Lohn dafür war, dass er bei uns blieb. Was würde ohne ihn aus unserem Haus werden? Aus Vaters Bäckerei? Was würde aus meiner schwerkranken Mutter werden? Ohne Hilfe wäre ich hoffnungslos überfordert gewesen mit ihr.
    Die Tage, an denen sie sich eigenständig fortbewegen konnte, wurden immer seltener. Es war entsetzlich anzusehen, wie schnell der Verfall ihres Körpers fortschritt. Nicht einmal ein Jahr war vergangen, seit mein Onkel sie aus dem Krankenhaus abgeholt hatte – nun war sie ein Pflegefall, der rund um die Uhr unserer Hilfe bedurfte.
    In den Monaten vor meinem achtzehnten Geburtstag fand ich kaum mehr Zeit, mich mit meiner Freundin Regina zu treffen. Irgendwann kam mir zu Ohren, sie sei inzwischen nach Berlin gezogen. Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Und ob Harald und ich noch ein Paar waren, wusste ich ebenso wenig. Unser letztes Treffen lag schon eine Weile zurück.
    Die seltenen Momente, in denen ich etwas Abstand von meiner Mühsal fand, beschränkten sich auf den späten Abend.
    Bevor ich erschöpft ins Bett fiel und ängstlich auf meinen Onkel wartete, begab ich mich meist noch einmal in den Garten. Maunzend strichen die Katzen um meine Waden. Ab und zu sprach ich mit ihnen wie mit Freunden. Bei ihnen verspürte ich keine Scham. Manchmal machte ich auch einen kurzen Spaziergang durch den Ort. Meist um Mitternacht, wenn ich mir sicher sein konnte, niemandem mehr über den Weg zu laufen. Niemandem, der Fragen stellte oder der mir meine beschämenden Antworten ansah.
    Gelegentlich ließ ich mich auf der Bank am Brunnen nieder. Ich redete mir ein, dass ich nichts weiter wollte als die Enten füttern. In Wahrheit wartete ich auf Harald. Doch ich blieb alleine.
    Bis eines Nachts eine fremde Stimme hinter mir sagte: »Aber junge Frau … Warum immer so traurig?«
    Kapitel 16
    Minutenlang klingelte es Sturm, bis Alex hochschreckte. Plötzlich herrschte Stille. Alex fragte sich, ob der Lärm nur Teil seines Traums gewesen war, und öffnete die Vorhänge. Ein Streifen Sonnenlicht fiel auf das Bett und den Hocker daneben, auf dem Alex’ schmutzverschmierte Jeans und das Hemd lagen. Sind Sie betrunken?
    Beschämt dachte er an den Abend zuvor. Er überlegte, ob er dem Polizisten schon mal über den

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