Die Mädchenwiese
Blase Erleichterung verschaffen. Dann entdeckte sie den Blechtopf in der gegenüberliegenden Ecke.
»Lisa?«, fragte Silke. »Alles in Ordnung?«
Lisa robbte bis vor die Gefängnistür. »Wie lange bist du schon hier?«
»Was spielt das«, Silke hustete, »für eine Rolle?«
»Wie lange?«
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube«, Silkes Krächzen wurde leiser, »viel zu lange.«
»Und was …?« Lisa stockte. »Was hat dieses kranke Schwein mit dir gemacht?«
Silke keuchte und schluchzte leise. Lisa wollte ihr etwas Tröstendes sagen, doch ihr fiel nichts ein.
Sie setzte sich auf die Matratze. Die Wunde am Kopf hatte zu bluten aufgehört, auch der Schmerz ließ etwas nach. Nur die Krämpfe in ihrem Unterleib wurden stärker. Ein wütender Schrei wollte sich aus Lisas Kehle lösen. Sie blieb still. Egal was sie tat, es änderte nichts an ihrer Situation, machte sie höchstens schlimmer. Doch gegen den Druck auf ihrer Blase konnte sie etwas unternehmen. Widerwillig sah sie die Blechschüssel an.
»Nein«, flüsterte sie, »das mache ich nicht. Nie und nimmer. Das ist ja widerlich.«
Ihr Unterleib krampfte sich noch stärker zusammen.
Kapitel 21
Ich atmete einmal tief durch, dann öffnete ich die Haustür. Ferdinand Kirchberger begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln. »Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen.«
In seinem Einreiher, der wie angegossen saß, wirkte er so vornehm, dass ich mich in meinem Kleid prompt hässlich fühlte.
»Ein hübsches Kleid«, sagte er. Ich wähnte einen Anflug von Spott in seiner Stimme und wagte kaum, mich zu bewegen.
Er deutete eine Verbeugung an. »Darf ich bitten?«
Nein, das war keine Häme , redete ich mir ein, ich bin nur verunsichert.
Er reichte mir seinen Arm. Sofort umwölkte mich der frische Duft seines Deodorants. Galant führte er mich zu seinem Auto und hielt mir die Beifahrertür auf. Mir wurde bewusst, dass ich mir keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie wir nach Berlin gelangen würden. Damals war noch nicht jeder im Besitz eines Autos – erst recht nicht eines Wartburgs.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich kaum etwas über Ferdinand Kirchberger wusste. Er wohnte seit kurzem in Finkenwerda, ja, das hatte er mir erzählt, aber sonst? Ich sah ihn verstohlen an. Wie kam es, dass er sich so vornehm zu kleiden verstand? Sich einen derart teuren Wagen leisten konnte? Was machte er beruflich? Und – wie alt war er eigentlich?
Er schien meine Nervosität zu spüren und bemühte sich während der Fahrt um ein unverfängliches Gespräch. Stolz berichtete er, wie er vor einigen Monaten von einem leerstehenden Haus in Finkenwerda erfahren hatte und dass es sein innigster Wunsch gewesen war, dort zu leben. »Ich liebe die Abgeschiedenheit des Dorfes und die Stille im Wald. So kann ich mich am besten von meiner Arbeit erholen.«
Zaghaft fragte ich: »Was arbeiten Sie?«
»Ich bin Wirtschaftskaufmann in Berlin.«
Ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Er lachte, als er meinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkte. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.
Er umriss einige seiner Aufgaben und erzählte von Planung, Organisation, Abrechnung und Kontrolle, von ökonomischen Prozessen in Betrieben und Kombinaten und deren hoher Qualität. Den Großteil vergaß ich sofort wieder. Ich war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Verunsicherung, Stolz und Zweifeln. Ich fragte mich, weshalb ein Mann von seinem Status jemanden wie mich ausführte. Ich war ein Mädchen vom Lande, gerade achtzehn geworden, eine Bäckerstochter. Du elendiges Flittchen! , hörte ich die Stimme meines Onkels in meinem Kopf. In mein Gefühlschaos mischten sich nun auch Scham und Angst.
»Frau Kutscher, alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte ich.
»Aber Sie haben mir gar nicht zugehört.«
»Doch, doch«, versicherte ich, konnte aber nicht verhindern, dass ich erneut rot anlief.
Er grummelte verstimmt. Eine Weile sagte er kein Wort mehr. Je länger unser Schweigen andauerte, desto unbehaglicher wurde mir zumute.
»Nun«, sagte er schließlich. »Ich habe Sie gerade gefragt, ob Sie schon einmal in Berlin gewesen sind.«
»Ja, mit meinen Eltern, aber das ist einige Jahre her.« Ich blickte aus dem Fenster.
»Und?« Er bedachte mich mit einem nachsichtigen Lächeln. »Ist es, wie Sie es in Erinnerung haben?«
Das Auto fuhr über breite Alleen, die auf beiden Seiten von herrschaftlichen Häusern gesäumt waren. Hell erleuchtete Fenster funkelten wie neugierige
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