Die Mädchenwiese
einfach von zu Hause abgehauen ist.«
»Aber Lisa …«
»Nein, Sam, ich rede jetzt von dir. Jetzt, da deine Schwester verschwunden ist, darfst du deiner Mutter nicht auch noch Sorgen bereiten, indem du die Schule schwänzt, durch die Gegend radelst oder dich im Wald herumtreibst. Das ist alles ein bisschen viel für sie.«
Seine Tante fuhr Sam lächelnd durch die Haare.
Sein Blick fiel auf den Teddybären, den er zusammen mit ein paar frischen Anziehsachen in seinen Rucksack gepackt hatte.
Sam atmete tief durch.
Das da ist Lisas Glücksbringer , wollte er seiner Tante sagen, und Lisa hätte ihn niemals zurückgelassen, nicht wenn sie abgehauen wäre. Er öffnete den Mund.
Seine Tante stupste ihn an. »Pass auf, ich mach’ uns jetzt einen leckeren Milchshake. Der wird dir ganz bestimmt schmecken. Und du hast wenigstens was im Magen.«
Sie ging in die Küche, kurz darauf hörte er den Mixer. Sam knetete seine Finger, aber auch das beruhigte ihn nicht.
Alex setzte sich an den Stammtisch in der Ecke. Paul sah ihn verwundert an. »Du bist tatsächlich einverstanden? Dass sie auch Bauer Schulze unter Vertrag nehmen? Also ich weiß nicht … Andererseits: Sechzigtausend Euro sind nicht zu verachten.«
»Sechzigtausend«, wiederholte Alex, als hörte er die Summe zum ersten Mal.
»Dafür dürfest du die Elster renovieren können, außerdem den Jugendclub sponsern. Ben wird sich freuen.«
Ben ! Alex kramte sein Handy hervor und wählte die Nummer seines Freundes.
»Hallo, Alex«, sagte Ben erfreut. »Gibt’s was zu feiern? Wie lief’s mit Fielmeister’s ?«
»Gut.«
»Gut?« Ben lachte. »Du klingst, als müsstest du Insolvenz anmelden.«
»Nein, es ist perfekt gelaufen. Der Jugendclub ist gerettet.«
»Das ist fantastisch, jawohl!« Ben juchzte. »Schade, dass ich gerade unterwegs bin. Sonst käme ich auf der Stelle vorbei und …«
»Wo steckst du?«
»Bin mit dem Taxi unterwegs, das weißt du doch, meine Miete verdienen. Lass uns morgen miteinander anstoßen.«
Alex schwieg.
»Bist du noch dran?«, fragte sein Freund.
»Du hast doch gesagt, dass man jederzeit Einblick in seine Adoptionsakten nehmen kann.«
»Äh, nein, das war Norman, aber natürlich hat er recht.«
»Ich möchte meine Akte lesen.«
»Und ich soll dir dabei helfen, klar, kein Problem. Treffen wir uns doch morgen früh im Club und fahren nach Berlin zur Adoptionsvermittlungsstelle. Vergiss deinen Ausweis nicht, den wirst du für den Antrag brauchen.«
»Und dann bekomme ich Einblick in die Akte?«
»Nein, du stellst erst einmal einen Antrag. Dann wird die Akte herausgesucht. Das kann drei bis vier Wochen dauern.«
»Wie bitte? So lange?«
»Wenn du nett bittest, zwei Wochen. Aber weniger kaum. Berliner Mühlen mahlen langsam, das weißt du doch.«
Alex verabschiedete sich und legte auf. Gizmo saß vor ihm, neigte den Kopf. Alex tätschelte ihm die Flanke.
»Müsst ihr nicht los?«, fragte Paul.
»Wohin?«
»Heute ist Dienstag. Du bist zum Abendessen mit Norman und seinem Jungen verabredet. Hast du das vergessen?«
Hab ich! , dachte Alex. »Nein.«
»Gut, dann zieh Leine. Um die Kneipe kümmere ich mich.«
Alex scheuchte Gizmo zur Tür.
»Hast du nicht was vergessen?«, fragte Paul und warf den Autoschlüssel im hohen Bogen durch die Kneipe.
Alex fing ihn auf und folgte seinem Hund nach draußen. Die Häuser rings um den Dorfplatz verschwanden hinter einer Nebelwand. Eine friedliche Stille breitete sich aus. Der Retriever hockte sich vor Alex und hob den Kopf.
»Sorry, Kumpel, Fressen gibt’s später.« Alex eilte zu Pauls Peugeot, und Gizmo knurrte. Eine Gestalt löste sich aus dem Nebel.
Es ist immer das Gleiche , dachte Sam. Seine Mutter, sein Onkel, seine Tante, sie alle hörten ihm nicht zu. Sie glaubten ihm nicht. Obwohl er der Einzige war, der über Lisas Freund und ihre Verabredung Bescheid gewusst hatte. Er versuchte sich an das Gespräch mit seiner Schwester zu erinnern, am letzten Freitag, als sie über den Bürgersteig gestöckelt war und die alte Kirchberger –
»So!« Sams Tante kam zurück ins Zimmer und stellte einen Milchshake auf den Bettkasten. »Lass ihn dir schmecken. Und wenn du doch noch Fernsehen gucken möchtest, komm einfach ins Wohnzimmer.« Erneut strich sie ihm durch die Locken. »Ich warte auf dich.«
Sam starrte den Milchshake an. Er würde nicht einen Schluck hinunterbekommen. Denn plötzlich konnte er sich an den vergangenen Freitag erinnern. An das spöttische Lachen
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