Die Mafia - 100 Fragen 100 Antworten - FAQ Frequently Asked Questions MAFIA
unter Führung Leoluca Bagarellas, eine Art Mafiapartei zu gründen: Sicilia Libera (»Freies Sizilien«), die sich gleichfalls die Unabhängigkeit Siziliens auf die Fahnen geschrieben hatte. Doch Bagarella wurde von alten Mafiosi wie Bernardo Provenzano zurückgepfiffen: Sie überzeugten ihn, dass es besser war, sich neue Mittelsmänner zur Politik zu suchen, statt selbst politisch aktiv zu werden. Jenseits der politischen Bestrebungen und Strategien des neuen sizilianischen Regionalpräsidenten Raffaele Lombardo sympathisiert die Cosa Nostra heute wahrscheinlich mit seiner Bewegung für die Autonomie Siziliens (MpA, Movimento per le Autonomie). Der sizilianische Separatismus besitzt für die sizilianische Mafia nach wie vor einen großen Reiz.
Die Verflechtungen zwischen Mafia und Politik waren schon immer in stetigem Wandel begriffen. Ende der siebziger Jahre begannen die Beziehungen der Cosa Nostra zu den herrschenden Parteien allmählich zu bröckeln. Einige Spitzenvertreter der sizilianischen und auch der gesamtitalienischen Democrazia Cristiana galten den Bossen der Cosa Nostra nicht mehr als vertrauenswürdig genug, um von ihnen die strafrechtliche Immunität garantiert zu bekommen. In dieser Zeit begann der Aufstieg der Corleoneser innerhalb der sizilianischen Mafia. Die Bosse von Corleone beanspruchten jetzt die Befehlsgewalt über die Politik,und die sizilianische Mafia fing an, Politiker umzubringen. Die Ermordung Salvo Limas im Jahr 1992, des mächtigsten Politikers der Democrazia Cristiana auf der Insel, markierte diesen Bruch zwischen der Mafia und der Politik am deutlichsten.
Nach 1992, nach den tödlichen Anschlägen auf Falcone und Borsellino, nach der Operation Saubere Hände (
Mani pulite
) zur Aufdeckung politischer Korruption und nach dem Zusammenbruch des alten Parteiensystems, demonstrierte die Cosa Nostra noch einmal ihren Willen zur Macht. Wie mehrere Kronzeugen der Justiz berichteten, tat sich die Mafia mit Forza Italia zusammen. Für einige Beobachter ist die zeitliche Nähe zwischen den Attentaten und der Entstehung dieser neuen, von Marcello Dell’Utri und Silvio Berlusconi gegründeten Partei beunruhigend. Für andere tat die Cosa Nostra nichts weiter, als erneut diejenigen politischen Kräfte zu unterstützen, die in diesem Moment die siegreichen zu sein schienen.
Heute sieht es so aus, als habe sich das Verhältnis von Mafia und Politik umgekehrt: Die Politik scheint die Befehlsgewalt über die Mafia zu haben, auch deshalb, weil die Cosa Nostra derzeit nicht mehr so mächtig ist wie einst. Eines aber ist sicher: Ohne die Politik könnte die Mafia nicht überleben.
69. Spielen die Wählerstimmen der Mafia in Sizilien heute immer noch eine Rolle?
Sie fallen noch heute ins Gewicht, vor allem in den Vorstädten und Dörfern, wenn auch nicht mehr so stark wie früher. Auch die Strategie der politischen Infiltration der Mafia hat sich geändert. Früher gab es Parteien, die sichere Bezugspunkte der Mafia waren, wie die Democrazia Cristiana. Heute setzen die Mafiosi nicht so sehr auf eine Partei, sondern auf einzelne Personen, die ihnen nützlich sein können. Eines der jüngsten Beispiele ist Giovanni Mercadante, ein Regionalratsabgeordneter von Forza Italia in Sizilien, ein hochangesehener Radiologe aus Palermo, der in erster Instanz zu zehn Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde. »Der Abgeordnete Mercadante ist eineKreatur Provenzanos«, gaben mehrere Mafiaaussteiger zu Protokoll.
Die Wählerstimmen werden zwar nach wie vor kontrolliert, aber nicht mehr in dem Maße wie früher. Vor dreißig, vierzig Jahren genügte es, wenn sich der örtliche Mafiaboss mit »seinem« Kandidaten Arm in Arm auf dem Corso zeigte, um allen zu verstehen zu geben, dass sie ihn zu wählen hatten. Ein Spaziergang am Tag vor der Wahl genügte.
Auf Grundlage der Aussagen einiger Kronzeugen im Maxi-Prozess von Palermo betrachtet Staatsanwalt Giuseppe Ayala Schätzungen als zuverlässig, denen zufolge die Cosa Nostra Ende der achtziger Jahre 180 000 Wählerstimmen allein in Palermo unter ihrer Kontrolle hatte. Der Mafiaaussteiger Antonino Calderone gab Falcone gegenüber zu Protokoll, allein in Catania kontrollierten die verschiedenen Mafiagruppen 180 000 Stimmen. »Nicht weniger als sechs, sieben Gemeinderäte wurden mit den Stimmen der Mafia gewählt, und die Mafia von Catania kann mindestens drei Regionalräte ins sizilianische Regionalparlament schicken«, klagte damals Enzo Bianco vom
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