Die Magd von Fairbourne Hall
würde die Hand nicht gegen seinen Bruder erheben, solange dieser noch so schwach war. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Wie auch immer, wir dachten, du wirst besser schlafen, wenn du weißt, dass der junge Mann außer Landes ist.«
Hester hatte darum gebeten, Connor begleiten zu dürfen, und würde bald seine Frau sein, doch Nathaniel glaubte nicht, dass Lewis dieses Zugeständnis billigen würde, deshalb sagte er ihm nichts davon.
Lewis schwieg eine Weile, den Blick auf seine Hände geheftet. »Und was ist aus der Schwester geworden?«
Mit einem Seitenblick auf Nathaniel sagte Helen ruhig: »Sie ist bei Verwandten, weit weg von hier.«
Lewis nickte, sah auf und starrte die Streifentapete an. »Soll mir recht sein. Zum Schluss wurde sie ohnehin ein bisschen anstrengend.«
Der Zorn, den Nathaniel empfunden hatte, verwandelte sich zuerst in Mitleid und dann in ein Gebet. Würde sein Bruder sich denn niemals ändern?
Helen bot Lewis noch Tee an, doch der winkte ab; seine Augen waren noch immer in die Ferne gerichtet. »Wenn ich will, finde ich sie trotzdem. Ihr werdet schon sehen.«
Helens Augen waren plötzlich voller Schmerz. Schmerz und Enttäuschung. »Ich verstehe.« Sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, zögerte und wandte sich stattdessen an Nathaniel.
»Als du von Barbados zurückgekehrt bist, war ich alles andere als freundlich zu dir. Ich habe dich falsch eingeschätzt und dafür bitte ich dich um Entschuldigung. Ich weiß jetzt, dass deine Absichten ehrenhaft waren. Du hast getan, was du tun musstest, um unsere Familie zu schützen. Ich danke dir.«
Nathaniels Herz krampfte sich zusammen.
Sie wandte sich wieder an ihren älteren Bruder, und ihr Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an. »Lewis, trotz all deines Charmes und deines guten Aussehens bist du …« Sie brach ab; ihr traten Tränen in die Augen, und die Worte blieben unausgesprochen. Mit belegter Stimme flüsterte sie: »Aber ich konnte es noch nie ertragen, wenn jemand etwas gegen dich gesagt hat.«
Am Nachmittag desselben Tages saß Nathaniel mit seinem Verwalter und seiner Schwester in der Bibliothek, dankbar für die Tatsache, dass sie nicht mehr zugleich als Krankenzimmer dienen musste. Er freute sich, den Raum wieder ganz für sich zu haben, obwohl Helen mehr Zeit hier verbrachte als früher. Und Hudson ebenfalls.
Robert Hudson rieb sich die Hände. »Was machen wir als Nächstes, Sir? Neue Pläne für die Entwässerung? Die Obstpflanzungen erweitern? Noch eine Reise nach London?«
Bevor er antworten konnte, klopfte Mrs Budgeon an die offene Tür.
»Mr Hudson, es tut mir leid, Sie zu stören, aber die Kandidatinnen sind hier. Möchten Sie bei den Gesprächen dabei sein?«
Hudson verzog das Gesicht. »Mrs Budgeon, ich habe vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeit, ein passendes Destillierraum-Mädchen einzustellen.«
»Danke, Mr Hudson. Und bitte, denken Sie an die jährliche Inspektion der Wäschebestände und der Livreen um fünfzehn Uhr.«
»Wie könnte ich das vergessen?« Er verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln und die Haushälterin ging.
Helen hatte das Gespräch interessiert verfolgt. »Vergeben Sie mir, wenn ich das sage, Mr Hudson, aber das Leben als Bediensteter scheint Ihnen nicht besonders zuzusagen.«
»Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe«, verteidigte er sich gekränkt.
»Aber ganz und gar nicht! Mir fällt nur auf, dass Sie sehr ehrgeizig sind und doch sicher ein sehr viel selbstbestimmteres Leben führen könnten.«
Er kniff die Augen zusammen. »Das klingt fast wie ein Kompliment, Miss Helen.«
»Das ist es auch. Du meine Güte, war ich so ein Drache, dass Sie ein Lob nicht erkennen, wenn ich es ausspreche?«
»Aber nein, Miss. Aber ich nehme ein Lob von Ihnen auch nicht auf die leichte Schulter.«
Sie neigte den Kopf. »Ich glaube, Sie können alles erreichen, was Sie wollen.«
Er sah sie vielsagend an. »Alles?«
Sie errötete. »Ich habe vom Geschäftsleben gesprochen.«
Arnold kam herein. Er brachte einen Brief auf einem Tablett. Nathaniel zuckte zusammen, als er die vertraute Handschrift erkannte. Es war der schon länger erwartete Brief.
Er winkte Helen. »Ein Brief von Vater.«
Helen presste eine Hand auf die Brust. »Was schreibt er?«
Nathaniel sah, wie Hudson Helens Arm nahm und tröstend drückte.
Nathaniel entfaltete den Brief und las die erste Zeile.
»Er schreibt, es geht ihm gut.«
Helen schloss erleichtert die Augen und seufzte. »Gott
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