Die Magd von Fairbourne Hall
schon lange dem formellen Salon im Erdgeschoss vor. Als er sich der Tür näherte, hörte er die sonore Stimme seines Bruders und die ruhige, fröhliche Stimme seiner Schwester.
»Lewis, du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen!«
»Das hast du schon mal gesagt. Schon zweimal. Hat Nate dir erzählt, was er in London mit mir gemacht hat?«
»Dass er dich gebeten hat, nach Hause zu kommen?«
»Nein, dass er mich niedergeschlagen hat – mitten auf dem Ball der Valmores!«
»Das glaube ich nicht!«
»Doch. Aber ich habe zurückgeschlagen. Ein Mann muss sich schließlich wehren.«
»Oh Lewie! Hast du daher die Verletzung? Und ich dachte, du hättest vielleicht mal wieder ein Herz gebrochen.«
»Das war vor zwei oder drei Wochen.«
»Lewie …«, schalt Helen liebevoll, »irgendwann wird ein Vater oder Bruder oder Geliebter dir wirklich noch etwas antun!«
»Dann sollte ich den Frauen vielleicht lieber abschwören. Schließlich bist du sowieso mein Liebling, Helen, und das wirst du auch immer bleiben.«
»Rede du nur. Ich kenne den Unterschied zwischen umarmt und auf den Arm genommen werden, weißt du!«
»Und was davon hat der alte Nate mit dir gemacht?«
»Keins von beidem. Allerdings ist er ein wenig anmaßend, seit er wieder zu Hause ist.«
Das tat weh. Nathaniel trat ins Zimmer und sah gerade noch, wie Lewis sich das Kinn rieb.
»Wie ich mir sehr wohl bewusst bin. Hätte ich gewusst, dass es hier so schlecht steht, wäre ich früher gekommen.«
Helen hob eine Braue. »Ich habe dir geschrieben.«
»Ja, aber du bist immer so vorsichtig mit deinen Formulierungen, so sehr darauf bedacht, mich nicht zu beunruhigen, dass ich keine Ahnung hatte, wie es wirklich steht.«
»Die Dienstboten in Aufruhr, die Händler vor der Tür, der Butler heimlich weggelaufen … das nennst du vorsichtige Wortwahl?«
Lewis zwickte sie in die Wange. »Jetzt bin ich ja da. Sag, dass du mir vergibst. Ich kann es nicht ertragen, wenn meine beiden Geschwister böse auf mich sind.«
Helen lächelte ihren gut aussehenden Bruder bewundernd an. »Ich könnte niemals böse mit dir sein, Lewis.«
»Das ist mein Mädchen! Genau das wollte ich hören.«
Nathaniel räusperte sich und ging durch das Zimmer zu Lewis. »Hallo, Lewis. Gut, dass du kommen konntest.«
»Du hast doch dafür gesorgt, oder nicht?«
Nathaniel blickte auf den blauen Fleck am Kinn seines Bruders und verzog das Gesicht. »Tut mir leid.«
»Schon gut. Ich habe es recht gut zu nutzen gewusst, kann ich dir sagen. Die Damen waren alle voller Mitgefühl und wollten mich unbedingt trösten.«
»Das glaube ich dir gern.«
»Aber sieh dich doch mal an!« Lewis deutete mit dem Finger auf Nathaniels Schlinge und die Bandage um seinen Kopf. »Ich sagte dir ja, ich habe mich gewehrt, Helen!«
Nathaniel und Helen wechselten einen Blick. Entschlossen, sie nicht mit weiteren Diskussionen über Diebe – ob Piraten oder Banker – zu beunruhigen, fragte Nathaniel Lewis: »Könntest du bitte mit mir in die Bibliothek kommen? Ich möchte dir unseren neuen Verwalter vorstellen und dann mit dir zusammen die Bücher durchgehen.«
Helen runzelte die Stirn. »Aber Lewis ist doch gerade erst angekommen!«
»Ich fürchte, bestimmte Dinge dulden keinen Aufschub.«
Helen sah aus, als wollte sie weiter protestieren, doch Lewis tätschelte ihre Hand und rappelte sich dann auf. »Ich komme ja schon. Mach dir nur nicht ins Hemd.«
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9
Sämtliche Mitglieder des Haushalts versammelten sich
morgens vor dem Frühstück in der Halle zum Gottesdienst.
A Memoir of Reverend Alexander Waugh, 1830
An diesem Abend herrschte große Geschäftigkeit. Als Margaret über den Flur des Souterrains ins Dienstbotenzimmer kam, sah sie beim Eintreten, dass Fiona, Betty und das Küchenmädchen Jenny kichernd und flüsternd um Hester herumstanden.
Neugierig trat sie zu ihnen. Fionas grüne Augen huschten zu ihr hinüber, kehrten jedoch sofort zu Hester zurück, als hätte sie sie gar nicht gesehen. Betty lächelte ihr flüchtig zu, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen oder Anstalten zu machen, sie daran zu beteiligen. Margaret blieb stehen, ein wenig abseits, und fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen.
Da betrat Thomas das Dienstbotenzimmer in Gesellschaft eines jungen Mannes, den sie noch nie gesehen hatte. Er war mittelgroß – nicht ganz so groß wie Thomas, aber seine Schultern waren breiter. Zumindest wirkte es so unter dem gut geschnittenen schwarzen
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