Die Magd von Fairbourne Hall
doch sie konnte sich auf keinen Fall von ihr trennen. Nicht von dem letzten Geschenk, das ihr geliebter Vater ihr gemacht hatte. Vielleicht konnte sie Betty eine neue Chatelaine schicken, wenn all das vorüber und sie im Besitz ihres Erbes war. Oder sogar in ihrer Privatkutsche hierher zurückfahren und diesem gierigen kleinen Mann Bettys Chatelaine abkaufen, auch wenn sie das maßlos ärgern würde.
Eine Stimme in ihrem Hinterkopf fragte: »Wird sie denn in einigen Monaten noch da sein?« Doch sie überhörte sie entschlossen.
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12
Das Geräusch, mit dem das Mädchen die Fensterläden aufklappte,
weckte Catherine am nächsten Morgen um acht Uhr.
Jane Austen, Northanger Abbey
Am nächsten Morgen stand Margaret frisch und ausgeruht auf. Sie war am Abend zuvor früh zu Bett gegangen, und obwohl sie sich noch eine Weile hin- und hergeworfen hatte, hatte sie doch mehr Schlaf als sonst bekommen. Betty hatte vergessen, zu ihr ins Zimmer zu kommen und ihr Korsett aufzuschnüren, deshalb hatte Margaret wieder darin geschlafen. Sosehr es sie auch zusammenschnürte, das Anziehen am Morgen ging auf diese Weise viel schneller – und vor allem bewältigte sie es auch allein. Sie hoffte, dass Betty nicht auch vergessen hatte, sich um Miss Upchurch zu kümmern. Das Erste Hausmädchen tat für die Herrin, was sie konnte, und gab sich größte Mühe, sie zu frisieren, seit die Zofe fort war. Doch nach Helen Upchurchs Erscheinen bei der Morgenandacht zu schließen, waren ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet bestenfalls rudimentär.
Margaret dachte erneut an das, was sie über Helen Upchurchs Enttäuschung, ihre große Liebe betreffend, gehört hatte. Die Gerüchte über ihre lange Abgeschiedenheit und ihren Rückzug aus der Gesellschaft hatten nur sehr selten so etwas wie Mitgefühl erkennen lassen. Man munkelte, ihr Vater hätte seine Zustimmung zu der Heirat versagt und der Tod des Mannes sei daraufhin ein bisschen sehr plötzlich gekommen. Arme Helen. Sie dachte an den gut aussehenden Mann auf dem Miniaturporträt auf Helens Frisiertisch. Kein Wunder, dass sie enttäuscht war.
Helen Upchurch war nie eine hinreißende Schönheit gewesen, nicht mit dieser markanten Nase, die an die ihres Bruders Nathaniel erinnerte, und ihrem etwas zu blassen Teint. Aber sie war recht hübsch gewesen und wurde sehr geschätzt. Es war so schade, dass alles so gekommen war. Plötzlich wurde Margaret klar, dass sie nichts unternommen hatte, als sie von Helens Verlust gehört hatte. Sie fragte sich, ob sie etwas hätte tun sollen, wie sie hätte helfen können. Wäre es wirklich eine solche Mühe gewesen, ihr einen freundlichen Brief zu schreiben oder einen Besuch abzustatten?
Doch dann schob sie die Gedanken an die Vergangenheit beiseite. Sie musste wissen, wie es Betty heute ging.
Sie zog sich an, nahm ihr blondes Haar zu dem üblichen festen Knoten zurück, setzte ihre Perücke auf, die Haube, die Brille und ließ sich auf dem Bett nieder, um auf Bettys Klopfen zu warten. Sie holte das Neue Testament ihres Vaters heraus und las eine Viertelstunde darin … vor ihrer Tür war es noch immer still.
Es wurde allmählich Zeit, nach unten zu gehen und die Fensterläden zurückzuschlagen, doch Betty war noch immer nicht aufgetaucht. War sie vielleicht ohne sie nach unten gegangen? War sie so böse mit ihr?
Wieder ging sie über den Flur zu Bettys Zimmer. Die Tür war geschlossen. Sie klopfte leise, lauschte, doch es kam keine Antwort.
Zögernd stieß sie die Tür auf. Das Zimmer war spärlich erleuchtet, die Fensterläden geschlossen. Als ihre Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten, runzelte Margaret die Stirn und zog ihren Kopf zurück wie eine Schildkröte, die unvermittelt einem Hindernis begegnet. Betty lag noch im Bett. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht im Kissen vergraben, die Wange hochgeschoben, der Mund stand offen. Ihr Arm hing schlaff herunter, die Finger berührten beinahe den Fußboden. Wie seltsam! Betty war nie eine Langschläferin gewesen.
»Betty?«, flüsterte sie, weil sie sie nicht erschrecken wollte. Doch Betty regte sich nicht. »Betty!«, wiederholte Margaret, plötzlich voller Angst, dass die andere krank war … oder etwas Schlimmeres.
Sie lief zum Fenster und schlug die Läden zurück. Das Licht der Morgendämmerung sickerte in den Raum. Dann kehrte sie zum Bett zurück, griff nach Bettys Schulter und rüttelte sie sanft.
Das Erste Hausmädchen murmelte etwas
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