Die Magie Des Herrschers
sicherheitshalber gesetzt hatte, um zu verhindern, dass die Magie das Büchlein aus Versehen in tausend Schnipsel zerriss, zückte Feder und Tintenfass, die in einer speziellen Halterung an ihrem Gürtel baumelten, und notierte sich den Versuchsablauf. Dann betrachtete sie kritisch die Hautoberfläche, ob Falten zu sehen waren. Wann wohl die Alterung einsetzt, von der Tobáar sprach?, fragte sie sich.
Seit dem Gespräch mit dem mächtigen Kensustrianer saß ihr die Angst vor ihren eigenen Fertigkeiten im Nacken, die sie wider ihren Willen erworben hatte. Was der jahrhundertealte Krieger ihr von der Magie erzählt hatte, hatte sie in ihrem Wunsch bestärkt, diese Macht so schnell wie möglich loszuwerden, wenn auch nicht unkontrolliert, wie das bei dem bedauernswerten Sabin der Fall gewesen war.
Bei jedem Experiment, das sie durchführte, schrie alles in ihr, den Versuch abzubrechen, um nichts heraufzubeschwören, was aus dem Ruder laufen könnte. Sie wollte nicht wie der Tersioner enden.
»Die Stimme der Magie«, raunte sie und starrte gedankenverloren auf das beschriebene Blatt Papier. Für mich bleibt sie stumm. Wie sollte es ihr gelingen, dass sie die Magie nicht einfach nur sah, sondern auch hörte? Gelang dieses Kunststück bei der Anwendung oder in einer Phase tiefster Ruhe?
Seufzend erhob sie sich und verließ das Zimmer, um sich auf den riesigen, flachen Balkon zu begeben und von ihrer Liege aus die faszinierende Stadt zu betrachten, wie sie es so gern tat.
Die Frühlingssonnen schienen voller Kraft auf das südlich gelegene Land, sodass sich Soscha bald ihrer dicksten Kleider entledigte. Grübelnd schweifte ihr Blick über Meddohâr, bis sich ihre Lider senkten und sie eindöste.
Im Dämmerschlaf hatte sie das Gefühl, unendlich leicht zu sein. Ihr Körper schien von dem Polster abzuheben wie eine Feder und wie als Spielball des warmen Windes über die Bauten zu wirbeln. In diesem Zustand der Entspannung, zwischen Traum und Wirklichkeit, ließ sie die Gedanken schweifen, ohne ihrem Unterbewusstsein irgendein Hindernis entgegenzustellen.
Dann spürte Soscha das Blau, die Magie, die in ihr war.
Wie ein scheues Tier, das sich in der Dämmerung aus dem Wald auf die Wiese wagte und nach allen Seiten Ausschau nach möglichen Feinden hält, so vorsichtig signalisierte die Macht ihre Anwesenheit, stets bereit, sich in die Tiefen zurückzuziehen, aus der sie kam.
Was soll ich tun?, huschte es durch ihren Verstand.
Das fremde Gefühl verstärkte sich, die Magie wollte ihr etwas zu verstehen geben – nahm sie zumindest an.
Soscha lauschte in sich hinein.
Eine Woge von behaglichen Empfindungen umspülte ihren Geist, sie schwamm in einem Meer aus Herzlichkeit und Geborgenheit. Das Blau strich um sie herum, benahm sich wie ein schüchterner Liebhaber, der nicht recht wusste, wie weit er bei der ersten Verabredung gehen durfte.
Kannst du sprechen oder dich irgendwie äußern?, versuchte Soscha es auf diesem Weg.
Zur Antwort erhielt sie eine Reihe wunderschöner Töne, die unglaubliche Gemütsbewegungen in ihr auslösten. Der Klang wirkte freundschaftlich, neugierig. Auch wenn es keine Worte waren, die die Magie gebrauchte, ging diese Art von Unterhaltung tiefer als jedes Gespräch, das Soscha je geführt hatte.
Es wird für dich das erste Mal sein, dass dich jemand wahrnimmt, dachte sie. Du bist ein fester Teil von mir, nicht wahr? Aber wie kann ich dich verstehen?
»Soscha?«, fragte eine Männerstimme nachdrücklich.
Der Zustand der Leichtigkeit wurde von dem Laut unterbrochen, denn ihr eigentliches Bewusstsein antwortete auf den äußeren Reiz mit der Rückkehr in die Welt um sie herum.
Das Blau verschwand ohne Vorwarnung und hinterließ ein Gefühl von Verlassenheit bei der jungen Frau. Ein wenig verärgert öffnete sie die braunen Augen und warf dem ungebetenen Besucher einen bösen Blick zu. »Ja?«
Stoiko zuckte erschrocken zurück. »Entschuldige, dass ich deinen Schlaf störe. Aber es gibt Neuigkeiten, die ich mit dir teilen wollte.« Er schaute sie prüfend an. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Soscha strich sich über die halblangen braunen Haare und hörte in sich hinein. Die Magie war verschwunden. »Ja, doch. Kein Grund zur Besorgnis. Ich hatte nur einen spannenden Traum, das war alles.« Sie lächelte ihn an. »Da fällt das Aufwachen besonders schwer, und deshalb war ich ein wenig gereizt.« In aller Eile zog sie ihre dicken Kleider über und erhob sich von der Liege. »Welche
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