Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
Soldaten, mit Ketten an Händen und Füßen. Sie wandte sich ab. Die Entfernung war zu groß, um genau zu sehen, wer irgendeine der Gestalten sein mochte, aber Falkin fürchtete plötzlich, dass ihre Entschlossenheit nachließe, wenn sie einen Mann in Handschellen in dem Boot sah.
Sie hob das Kinn und hielt in der anderen Richtung nach ihrer eigenen Schaluppe Ausschau; sie hoffte, dass ein Großteil der Mannschaft schon an Bord war und Klarschiff machte. Die Vogelfrei hatte, da sie sowohl klein als auch ohne Fracht war, nicht viel Wasser gezogen. Sie waren weit vorn vor Anker gegangen, wohin die größeren, schwereren Schiffe nicht vordringen konnten, wenn sie nicht auf Grund laufen wollten. Gegen die Helligkeit des Sonnenlichts, das sich glitzernd im Wasser spiegelte, kniff Falkin die Augen zusammen und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das änderte nichts. Sie wollte nicht glauben, was sie sah. Wo die Vogelfrei vor Anker gelegen hatte, war nun nur noch eine leere, schimmernde Wasserfläche.
»Nein«, flüsterte sie, packte eine Handvoll von Shadds Hemd und zog seinen Kopf zu sich herunter. »Wo ist das verdammte Schiff?«
Der Kanonier suchte den Hafen ab, in dem es recht geschäftig zuging. »Ich will verflucht sein!«, knurrte er.
Falkin setzte einen Ellenbogen auf Shadds massigen Brustkorb und stützte die Stirn in die Hand. Das passiert nicht wirklich , sagte sie zu sich selbst. Ich zähle jetzt bis drei, und wenn ich wieder aufsehe, wird das Schiff da liegen, genau dort, wo wir es gelassen haben. Genau an der Stelle, wo ich es gelassen habe. Eins … Zwei …
»Kin, was tust du da?« Shadd klang verwirrt. Sie zählte stumm zu Ende und sah wieder aufs Wasser hinaus. Die Vogelfrei blieb all ihrer Hoffnungen zum Trotz allerdings noch immer verschwunden.
»Glaubst du, die Soldaten haben das Schiff beschlagnahmt, als Beweismittel oder so?«, fragte Shadd. Falkin schüttelte den Kopf. Soweit sie es aus dem, was der Abgesandte von der Schriftrolle vorgelesen hatte, schließen konnte, glaubten sie, dass Binns auf der Thanos eingelaufen war. In den paar Minuten, die sie mit ihm verbracht hatte, bevor er erfahren hatte, dass sie das Logbuch besaß, und so aufgeregt geworden war, hatte er versucht, sie dazu zu bringen, die Schaluppe zu nehmen und zu fliehen. Das war ein sicherer Beweis dafür, dass er sie denen gegenüber, die ihn verhaftet hatten, nie erwähnt hatte. Es gab also keinen Grund anzunehmen, dass sie überhaupt von der Vogelfrei wussten. Wohin war sie bloß verschwunden?
»Unwahrscheinlich«, sagte sie. »Selbst wenn sie das getan hätten, hätten sie sie nicht bewegt. Sie hätten bloß einen Trupp an Bord geschickt.«
Shadd wurde blass und machte eine Schutzgebärde. »Du glaubst doch nicht etwa …«, begann er; seine Stimme klang seltsam gedämpft. »Dieses Geisterschiff ist schließlich auch verschwunden. Vielleicht sind die Geister auf die Vogelfrei gegangen, während wir in der Stadt waren, und haben sie verschwinden lassen, dorthin, wo Geister immer hingehen, wenn die Sonne aufgeht …«
Sie hätte wissen sollen, dass die Mannschaft immer noch eine abergläubische Furcht empfand. Sie und Binns waren die Einzigen, die die ganze Geschichte gehört hatten. »Glaub mir, die Vogelfrei ist nicht von Geistern verflucht worden. Aber es scheint offensichtlich, dass jemand sie gestohlen hat.«
»Na, wenn es keine Geister waren, die sie geraubt haben …« Shadd kniff plötzlich die Augen zusammen; binnen eines Atemzugs wich sein Aberglaube einem heftigen Zorn. »Oh, diese Ratten, die ich an Bord gelassen habe! Wenn ich die erwische …« Er schlug sich ärgerlich mit der Faust in die Handfläche.
Falkin richtete sich auf. »Nicht unsere Jungs«, sagte sie; ein langsames Brennen regte sich in ihrem Innern. Piraten waren nicht gerade für ihre Ehrenhaftigkeit bekannt. Mindestens einmal pro Saison meuterte eine Mannschaft. Die Kapitäne, die Glück hatten, wurden unbeschadet an Land oder in einem Langboot ausgesetzt. Viel zu viele wurden von ihren ehemaligen Untergebenen gefoltert und verstümmelt. Das hier war aber keine Meuterei, das hätte sie schwören können. Es waren nur drei Mann an Bord gewesen, also zu wenige, um selbst ein kleines Schiff wie die Schaluppe ohne Schwierigkeiten zu segeln.
»Kin!« Shadd machte eine ruckartige Kopfbewegung zur Sieg hin. Ihr Anker wurde langsam eingeholt; glitzernde Tropfen blinkten auf den dunklen Spitzen. Die Segel blähten sich, und die Sieg fuhr
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