Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
Irgendjemand muss ohnehin nachts bei ihm bleiben, falls er wieder zu bluten beginnt. Außerdem muss Shadd mit einer so schlimmen Wunde flach liegen und darf nicht die ganze Nacht über hin und her schaukeln.«
Sie stand auf. Ihre Männer spazierten so aufgeregt wie Kinder an Deck umher. Die Kanoniere waren anscheinend schon unter Deck geschlüpft; Falkin konnte hören, wie sie einander mit gedämpften Stimmen etwas zuriefen. Sie warf einen Blick zum Hafen hinaus. Boote bewegten sich immer noch zwischen Schiffen und Ufer hin und her. Offenbar kamen keine Patrouillen hier vorbei. So weit, so gut.
»In Ordnung, Männer, genug ausgeruht. Hoch mit euch, und los geht’s!« Sie reagierten auf ihren Befehl, und binnen weniger Momente blähten sich die Segel dick und rund in der Nachmittagsbrise.
Axel war beinahe damit fertig, seine Männer ins Boot zu verladen. Cragfarus’ Leichnam war schon verschwunden, und die letzten paar Blauröcke warteten noch, bis sie an der Reihe waren, nach unten ins Boot zu steigen. Falkin überquerte das Deck und versetzte dem jungen Mann einen Rippenstoß. »Vergiss nicht, euren Magus mitzunehmen. Wenn ich ihn finde, werfe ich ihn den Haien vor.«
Axel sah verwirrt drein. »Welchen Magus?«
»Den, der für das alles verantwortlich ist.« Sie wies mit einer ausladenden Handbewegung auf den Strohballen und das unendliche Kartenspiel.
Axel nickte wissend. Er trat übers Deck, bückte sich, hob eine Spielkarte auf und klopfte dreimal mit dem Finger darauf. Die Männer verschwanden sofort. Mit einem halben Lächeln streckte er Falkin die Karte hin.
»Das nennt man eine Beständige Illusion . Man legt den Zauber auf einen festen Gegenstand wie diese Karte.« Er zuckte die Schultern. »Wir benutzten sie andauernd, um Fallen zu stellen und feindliche Armeen so zu verwirren, dass sie glauben, wir hätten mehr Männer, als wir wirklich haben. Das ist billiger, als einen Danisober auf der Soldliste zu haben.«
Falkin nahm die Karte mit spitzen Fingern aus seiner Hand. Sie war sich nicht sicher, womit sie gerechnet hatte – mit einem Kribbeln vielleicht, oder Hitze. Aber diese hier fühlte sich nicht anders an als jede andere Spielkarte auch. Sie drehte sie um. Pik Ass. Mit hochgezogener Augenbraue hielt sie Axel die Spielkarte hin.
»Die Todeskarte?«, fragte sie.
Der junge Soldat breitete die Hände aus. »Der Kommandeur hatte schon immer einen Sinn fürs Dramatische.«
Falkin ging zur Reling und sah nach unten. Die Gezeitenströmung war jetzt stärker, schuf Strudel rings um die Wasserlinie des großen Schiffes und zog es so weit mit, wie die Länge der Ankerkette es erlaubte. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Es wird Zeit, dass du gehst, Axel. Tut mir leid wegen der Auspeitschung.«
Er sagte nichts. Einen Moment später hörte sie Schritte. Langsame, zögernde Schritte, aber doch Schritte, die sich von ihr wegbewegten. Sie hielt die Karte in der Hand, drehte sie immer wieder um und klopfte mit den Fingern darauf. Nur eine Spielkarte war das. Und doch überhaupt keine Karte. Ein bisschen glänzendes Papier: mit der Macht versehen, alle möglichen Menschen so zu überlisten, dass sie glaubten, was sie sahen. Ihr lief ein kräftiger Schauer über den Rücken.
Das rhythmische Klatschen von Rudern zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Trupp Soldaten ruderte in dem Muschelsucherboot davon, das sie benutzt hatte, um hier herauszugelangen. Jetzt würde jede Minute Alarm geschlagen werden.
»Sollen wir dann den Anker lichten?«, rief der Rote Tom, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Aye aye, Anker lichten. Wir haben bei dieser Unternehmung ohnehin schon zu viel Zeit verschwendet.« Sie lauschte dem Knarren der Ankerwinde, die gedreht wurde. Die Thanos bäumte sich unter ihren Füßen auf und reagierte auf das schnell fließende Wasser und den Wind, der an den Segeln über ihrem Kopf zerrte. Sie schien so sehr zum Aufbruch bereit wie Falkin selbst.
Die Wellen wurden vom anbrechenden Sonnenuntergang rotgolden gefärbt. Falkin knurrte der Magen: Sie wünschte sich ein weiteres Mal, sie hätte mehr zum Frühstück gegessen. War es denn wirklich nur ein einziger Tag gewesen? Der süße Geschmack der grünen Beryllfrucht, die Artie ihr gegeben hatte, kehrte ihr in den Mund zurück. Er war zwar Pirat und Gesetzloser, und doch war wohl nie ein freundlicherer, sanfterer Mann geboren worden. Wenn dagegen irgendjemand es verdient hatte, gehenkt zu werden, dann war es diese schwarzherzige Schlange,
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