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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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Schrank ausgelegt war, und hockte sich da, wo sie nicht gleich von der Tür aus gesehen werden konnte, auf den Eimer. Als sie fertig war, sagte sie: »Hilf mir, ich bin so steif.«
    Ich ging zu ihr, und sie nahm mich in den Arm. Glücklich umklammerte ich sie, obwohl jede Verzögerung gefährlich war. Über mich hinweg blickte sie zu Dagi und fragte sie mit leiser Stimme, wie es ihr gehe. Ohne eine Antwort abzuwarten, flüsterte sie: »Du bist ein tapferes Kind.«
    Ich wollte mich losmachen, damit sie schnell wieder im Adlerhorst – so nannte sie ihr Versteck – verschwinden konnte, aber sie klammerte sich noch mehr an mich. Sie zitterte, und dann hörte ich ihr Schluchzen. Ich schob sie zurück und schaute. Noch nie hatte ich sie so weinen sehen. Ich wollte es nicht, doch ich heulte genauso los wie sie. Unter Tränen half ich ihr, wieder auf den Schrank zu klettern, und als ich mich danach Dagi zuwandte, sah ich, dass auch sie wie ein Schlosshund Tränen verschüttete und schniefte.
    Ich ging zu ihr und sagte schluchzend, aber streng: »Du musst aufhören zu weinen! Das darf keiner merken!«

21. KAPITEL
    E
    s hatte aufgehört zu schneien, langsam wich die Kälte, und mir fiel ein, dass es auch wieder Frühling werden könnte, was ich schon ganz vergessen hatte.
    So wie auf jeden eisigen Winter der Frühling und Sommer folgt, so auch auf jedes Chaos eine Restauration. Sie kam, als Rübezahl zum Kommandanten ernannt wurde. Nun wolle er für Ordnung sorgen, sagte er in seiner Antrittsrede auf dem Vorplatz, zu der er alle, Russen wie Deutsche, versammelt hatte. Ich war da und merkte mir alles, was gesagt wurde. Es war eine Zäsur, eine neue Zeit brach an, und die Deutschen glaubten ihm, denn Erich Domke stand daneben, ließ sich alles von Nina, die jetzt auch eine russische Uniform trug, übersetzen und sagte es dann noch einmal selbst. Er verkündete auch, was das praktisch zur Folge haben sollte: Das Vieh sollte eingefangen und in die Ställe gebracht werden, man brauchte von irgendwoher neue Pferde, denn der Stall war bis auf Hänsel und ein paar alte klapprige Gäule leer, es gab keine Elektrizität und Wasser nur aus der Pumpe. Damit alles wieder funktionierte, brauchte Rübezahl jeden Deutschen. Vor allem die Frauen, denn es waren kaum noch Männer auf dem Gut. Auch war es höchste Zeit, die Felder zu bestellen.
    Meine Mutter sagte, das seien gute Nachrichten, denn dann dürften die Arbeitskräfte nicht mehr Freiwild sein, und die Soldaten müssten sich die Frauen für ihr bestialisches Vergnügen woanders suchen. Sie hatte damit recht, denn Rübezahl hatte am Ende seiner Rede erklärt, er habe acht Wachsoldaten zum Schutz für die deutschen Arbeitskräfte abgestellt. Da meine Mutter die Situation auf dem Schrank nicht mehr ertrug, verließ sie im Vertrauen auf all diese Neuigkeiten ihr Versteck und reihte sich am nächsten Morgen bei dem Arbeitsappell ein. Es war ein Risiko, aber Rübezahl bestätigte sein Versprechen noch einmal und forderte alle auf, ihm sofort zu melden, wenn Fremde auf dem Gut erschienen.
    Zu den acht Soldaten kamen noch drei russische Frauen in Uniform, von denen eine die Übersetzerin Nina war.
    Es war wärmer geworden, der Boden war aufgetaut, und so war die erste Arbeit, die Rübezahl anordnete, das Beerdigen der Leichen. Es wurde sofort damit begonnen.
    Das Graben war sehr hart für meine Mutter, denn es musste auch eine große, tiefe Grube für die Tierkadaver ausgehoben werden, an der tagelang gearbeitet wurde. Abends sank sie erschöpft ins Bett, aber es war die schönste halbe Stunde des Tages, wenn wir uns unter der Decke an ihr wärmten. Ich war dann nie aufgeregt, wütend, ängstlich oder hungrig. In solchen Momenten dachte ich an nichts, ich war selig und wusste, nichts Schlechtes konnte mir passieren. Selbst Wünsche quälten mich nicht, ich wollte nichts haben, denn alles, was ich mir erträumte, lag neben mir und schlief friedlich.
    »Welch ein Segen, dass ich wieder im Bett schlafen kann«, sagte sie jeden Abend und erzählte uns mit leiser Stimme, welche Qual es auf dem Schrank gewesen war, weil sie sich niemals hatte erlauben dürfen, wirklich einzuschlafen. Im Schlaf hätte sie sich drehen können und wäre dann mehr als zwei Meter tief gefallen. Ich wollte immer noch mehr hören, und sie beschrieb uns, wie langsam die Minuten dort auf dem Schrank vergangen wären und wie sehr alle Glieder geschmerzt hätten. »Wenn ich nicht so einen starken Willen hätte«, sagte sie,

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